Zur Legitimität des Europäischen Parlamentes

26. Mai 2014 Gesellschaft
von Matija Vudjan
Gestern und in den vergangenen Tagen wurde in den 28 Mitgliedern der EU das Europäische Parlament neu gewählt. Insgesamt fällt die Europawahl aber ernüchternd aus: zwar ist die Wahlbeteiligung in Deutschland im Vergleich zur Europawahl 2009 um fast fünf Prozent auf insgesamt 47,90% gestiegen; insgesamt haben sich aber dieses Jahr nur 43,09% der Berechtigten von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht (Quelle: Europäisches Parlament).

Das Europäische Parlament in Straßburg.
Foto: Michal Sänger; Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0

Entscheidend ist für mich persönlich nicht unbedingt, dass in vielen Ländern rechtskonservative, ja gar rechtsradikale die größten Stimmzuwächse generieren – oder sogar wie in Frankreich durch die „Front National“ stärkste Kraft werden konnten. Durch solche Parteien geht ohne Zweifel eine Gefahr für die Europäische Idee aus, aber der Grund dafür, dass diese Parteien erst so erfolgreich werden konnten – und das ist der entscheidende Punkt – liegt auf der Hand:

Fast 60 Prozent (!) der Wahlberechtigten haben von ihren Stimmrecht gar nicht erst Gebrauch gemacht! Zahlen, von denen man in der Slowakei nur träumen kann – dort gab es eine Wahlbeteiligung von insgesamt 13 (in Worten: dreizehn!) Prozent! Man kann – da bin ich mir sicher – davon ausgehen, dass die Wahlbeteiligung wohl noch niedriger ausgefallen wäre, wäre die Europawahl nicht mit verschiedenen Lokal- und Regionalwahlen verknüpft gewesen. Angesichts der Kommunalwahlen in einigen Bundesländern haben in Deutschland etwas weniger als 50% ihre Stimme abgegeben. Ohne Kommunalwahlen wären es wohl etwa so viele wie vor fünf Jahren gewesen. Ein Armutszeugnis, wie ich finde, insbesondere den unzähligen Menschen gegenüber, die ihr Leben für das Recht, in ihrer Heimat an freien Wahlen teilzunehmen, geben würden.

Ein „etymologischer“ Exkurs

Zwangsläufig stellt sich bei diesen erschreckenden Zahlen die Frage, ob das Europäische Parlament als ein demokratisch gewähltes und legitimiertes Parlament bezeichnet werden kann. Dabei soll ein Blick in die Etymologie des Begriffes der Demokratie helfen:

Die Demokratie als politische Staatsform hat ihren Ursprung in der Griechischen Antike. „Demokratie“ als Kompositum leitet sich ab aus den beiden griechischen Begriffen δῆμος (demos) = Volk sowie κρατία (kratia) = Herrschaft. „Demokratie“ bedeutet also schlicht und ergreifend, dass das Volk den Machthaber (bzw. den „Verwalter“) des Staates stellt. Anders ausgedrückt – und formal zugespitzt: Das Volk selbst ist der Souverän; das Volk hat die Macht über den Staat!

Kann man noch sagen, dass das Volk (politische) Macht ausübt, wenn mehr als die Hälfte der Berechtigten bewusst auf ihr Wahlrecht verzichtet? Die Antwort kann hier eigentlich nur „Nein“ lauten, oder höchstens „Ja – aber mit großen Einschränkungen“. Aus der Perspektive des gewählten Abgeordneten wird dies sehr gut deutlich: ein slowakischer Abgeordneter des Europäischen Parlamentes kann wohl kaum als demokratisch legitimiert bezeichnet werden angesichts der Tatsache, dass von den 13%, die gewählt haben, nicht alle ihre Stimme für ihn abgegeben haben. Statt der Mehrheit der Slowaken vertritt er im Europäischen Parlament also wohl weniger als ein Zehntel der slowakischen Bevölkerung!

Der Politikwissenschaftler Wolfgang Koschnik hat vor kurzem bei Teleopolis die Reihe „Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr“ herausgegeben. Dieser Titel mag zwar sehr hart klingen, aber rein etymologisch gedacht sehe ich mich (beinahe) gezwungen, dem Autor zuzustimmen. Deutlich wird das am folgenden, zugegeben überspitzten Beispiel der Wahlen in autokratischen Systemen:

Autokratien als formal bessere Demokratien

Im sozialistischen Jugoslawien gab es früher regelmäßig „Präsidentschaftswahlen“, an denen jeder Bürger der SFRJ teilnehmen musste. Zur Wahl stand – wie sollte es in einer Autokratie anders sein – immer nur der politische Machthaber – bis zu seinem Tod 1980 war dies immer Josip Broz „Tito“. Selbstverständlich waren diese Wahlen alles andere als frei (man wurde faktisch gezwungen, sein Kreuz im einzigen Feld zu setzen und seinen Stimmzettel nicht ungültig werden zu lassen), aber durch Wahlergebnisse von nahezu 100% konnte sich Tito immer durch den (pseudo-demokratischen) Willen des Volkes in seiner Machtausübung legitimiert sehen. Rein etymologisch – nicht politisch! – gedacht ist dies sogar vollkommen nachvollziehbar.

Konsequenzen für die demokratische Legitimation

Das Beispiel ist bewusst plakativ gewählt, weil gerade diejenigen EU-Länder des ehemaligen Ostblocks und Jugoslawiens gestern die niedrigsten Beteiligungsquoten hatten (scheinbar hat man dort bereits vergessen, was für ein Privileg freie Wahlen eigentlich sind). Trotzdem, oder gerade deswegen soll es verdeutlichen: Wer den Anspruch hat, seriöse Demokratie zu betreiben, ist auf die Stimme des Volkes angewiesen, ja gar von dieser abhängig. Selbstverständlich kann diese Prämisse nicht ohne Konsequenzen für ein gewähltes Europäisches Parlament (das sich als demokratisch legitimiert versteht) bleiben:

Spitzen wir den Gedanken der Demokratie als Volksmacht zu, können wir nur konstatieren: Das Europäische Parlament ist zwar ein nach demokratischen Regeln und Maßstäben gewähltes Parlament, aber es hat de facto keine demokratische Legitimation im klassischen Sinne! Liegt unseren Politikern etwas an der Europäischen Idee, sollten sie so schnell wie nur möglich dafür Sorge tragen, dass das Europäische Parlament seine demokratische Legitimation erlangt!

Dieser Beitrag stammt von: Matija Vudjan

Student der katholischen Theologie an der Ruhr-Universität Bochum. Autor des Blogs durchgedacht.
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