„Die Menschlichkeit kommt vor dem Euro.“
Der hl. Martin als Brückenbauer

11. Juni 2018 Ethik, Gesellschaft
von Matija Vudjan
„Die Welt braucht mehr Martinus.“ Ein Podium auf dem Münsteraner Katholikentag zur Bedeutung des hl. Martin.

Donald Trump und Alexander Gauland sind nur zwei von vielen möglichen Beispielen, die man gegenwärtig nennen könnte, die aber allesamt zeigen: Wir befinden uns gerade in einer Zeit des Umbruchs; in einer Zeit, in der politische, gesellschaftliche und nicht zuletzt auch moralische Überzeugungen zunehmend in Frage gestellt werden. Mehr denn je benötigt man in Zeiten wie diesen eine Richtschnur. Ein Podium auf dem Münsteraner Katholikentag hat deutlich gemacht: Der hl. Martin von Tours kann diese Richtschnur sein.

Simone Martini: Der hl. Martin teilt seinen Mantel (1322-26). Fresco, Unterkirche S. Franceso/Assisi. Lizenz: gemeinfrei.

Wenn es um die Frage geht, was genau Nächstenliebe ist und wie man sie sich praktisch vorstellen kann, dann hören Kinder in den meisten Fällen die Legende vom hl. Martin, der seinen Mantel geteilt hat und einem Bettler damit das Überleben gesichert hat. Jedes Jahr im November erinnern Martinszüge an diese Wohltat. Auch weitere Bräuche wie das Martinssingen und das Verspeisen der Martinsgans zeugen von der breiten Wirkungsgeschichte des römischen Soldaten, der zum Bischof von Tours und zum Wohltäter wurde.

Kann der hl. Martin auch der heutigen Gesellschaft ein Vorbild sein, und zwar fernab von Hagiographie und Legendenbildung? Mit dieser Frage hat sich ein Podium auf dem Münsteraner Katholikentag vor einem Monat beschäftigt. Unter dem Titel „Der heilige Martin – Friedensbote damals und heute“ haben sich Johanna Vering (Buchen, Moderation), Bischof Dr. Gebhard Fürst (Stuttgart/Rottenburg), Xavier Gué (Rektor der Basilika St. Martin, Tours/Frankreich), Bischof János Székely, Szombathely/Ungarn sowie Karl Woditsch (Eisenstadt, Österreich) mit der Frage beschäftigt, welche Relevanz Martin von Tours heute noch hat – für Europa im Allgemeinen, aber auch für jede*n Einzelne*n von uns im Besonderen. Und das ist in der Tat eine ganze Menge!

Die Besetzung des Podiums (v.l.n.r.): Xavier Gué, Bischof Dr. Gebhard Fürst, Johanna Vering, Bischof János Székely, Karl Woditsch.

Der hl. Martin und die heutige Gesellschaft

Schon die Biographie des hl. Martin zeigt auf, dass das zentrale Vermächtnis des Bischofs von Tours darin liege, Verbindungen zu schaffen zwischen den Ländern und Kulturen, so Xavier Gué: Geboren auf dem Gebiet des heutigen Ungarn und mit seinem Wirken als römischer Soldat sowie später als Bischof von Tours habe der hl. Martin es geschafft, Brücken zu bauen über (Länder)grenzen hinweg – und Länder und Menschen zu miteinander zu verbinden.

Angesichts der immer pluraler werdenden Gesellschaft, in der wir heute leben, geht es darum, so Gué, im Sinne des hl. Martin Ängste zu überwinden, wenn wir uns (scheinbar) anderen, fremden Kulturen zuwenden wollen: „Wir müssen uns immer klar machen, dass gerade der hl. Martin, der uns doch Vorbild ist, in einem fremden Land und einer (ihm) fremden Kultur gewirkt hat. Seine Zuwendung zu den Armen geschah also gerade in der Fremde!“ Die Zuwendung zu den Bedürftigen könne nur dann geschehen, wenn wir es schaffen, unsere eigenen Ängste zu überwinden – und offen zu sein für das, was die Anderen ausmacht, zu suchen, was uns mit ihnen verbindet.

Bischof Fürst misst dem Vermächtnis des Martin von Tours vor allem eine politische Bedeutung zu: So gebe der hl. Martin jedem einzelnen (!) Menschen seine Würde zurück. Wenn wir seine Botschaft ernst nehmen, kann es heute nur eine Konsequenz geben:

„Die Menschlichkeit und die Nähe zum Menschen kommen vor dem Euro.“
Bischof Gebhard Fürst

Starke Aussagen: Bischof Gebhard Fürst.

Wer dies ernst nehme, so der Bischof, könne gar nicht anders als dem caritativen Engagement eine wichtige, ja sogar grundlegende Bedeutung für das Christsein beizumessen. Das zeigt gerade die Legende von der Mantelteilung: In der Zuwendung zu den Armen und Bedürftigen begegnet uns eine Dimension, die wir nicht fassen können, die größer ist als wir selbst: „In den Bedürftigen begleiten wir Jesus Christus selbst! Aus dem Schenken entsteht Gottesbegegnung!“ 

Gegenwärtig ist es die Flüchtlingsfrage, die diesen moralischen Imperativ praktisch werden lässt: Karl Woditsch hat auf dem Podium mehrfach darauf aufmerksam gemacht, dass die Frage nach dem Nächsten besonders in den vielen Flüchtlingen, die auf unsere Hilfe angewiesen sind, konkret wird. Wer sich zum christlichen Glauben bekennt und wem der hl. Martin ein Glaubensvorbild ist, der könne nicht einfach wegschauen und hoffen, dass wieder alles gut wird. Im Gegenteil: in der Zuwendung zu den Flüchtlingen wird die christliche Nächstenliebe konkret – selbst wenn diese Zuwendung nur darin liege, als Kirche in Österreich zu verbieten, dass auf kirchlichem Grund Grenzzäune gebaut werden.

Umkehr als zentrale christliche Dimension

Die Entscheidung zu caritativem Engagement – gerade aus dem christlichen Bekenntnis heraus – kann aber nur eine vollkommen freie sein. Bischof János Székely hat deswegen zurecht betont, dass man auch die Ängste und Sorgen der Menschen ernst nehmen müsse, die sich angesichts der Begegnung mit fremden Kulturen unvorbereitet, ja sogar überfordert fühlen. Gerade in Ungarn könne man dies historisch begründen angesichts jahrhundertelanger Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich sowie angesichts katastrophaler existentieller Erfahrungen im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Die katholische Kirche in Ungarn versuche deswegen, als Vermittlerin zu wirken und eine Umkehr im Denken der Menschen zu erreichen: „Wir versuchen, den vielen Vorurteilen mit Bildung etwas entgegenzusetzen und so zwischen den Kulturen zu vermitteln.“

Umkehr ist auch mit Blick auf den hl. Martin eine entscheidende Dimension: Xavier Gué hat pointiert herausgestellt, dass auch die Geschichte des Martin von Tours die Geschichte einer Umkehr sei – und damit eine christliche Geschichte im eigentlichen Sinn: Das bemerkenswerte sei, dass sich Martin von einem Soldat des Kaisers zu einem Soldat Christi gewandelt habe.

Der hl. Martin: die Gründungsfigur Europas

Gerade deswegen könne man, so Bischof Fürst, den hl. Martin als Gründungsfigur Europas bezeichnen: er ist es, der das geistige Fundament gelegt hat, auf dem später das karolingische Reich entstehen konnte und auf dem sich Europa entwickeln konnte. Und aufgrund dieses Fundamentes muss man – gerade heute – festhalten:

„Die ‚Software‘ von Europa ist nicht der Euro, sondern die ‚Software‘ von Europa sind Menschen wie der hl. Martin, die einen Geist setzen in diese Welt!“
Bischof Gebhard Fürst

Das Vermächtnis des hl. Martin ernst zu nehmen, bedeutet, Grenzen zu überwinden, auch (persönliche) Grenzen zu überspringen. Das ist ohne Frage eine Herausforderung, aber es ist auch christliches Handeln im eigentlichen Sinne. Das Beispiel des Martin von Tours zeigt, dass die Zuwendung zum Anderen – und damit die Wahrnehmung und Wertschätzung seiner als Person, mitsamt seiner eigenen Würde – auch heute noch brandaktuell ist. Und damit ist klar: Wenn es gerade heute um die Frage nach einer Richtschnur und nach einem ethischen Kompass geht, dann ist der hl. Martin wohl mit das beste Vorbild, das wir heranziehen können.

Dieser Beitrag stammt von: Matija Vudjan

Student der katholischen Theologie an der Ruhr-Universität Bochum. Autor des Blogs durchgedacht.
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