Wenn eine Kundgebung vereinnahmt wird…
Stein des Anstoßes ist selbstredend die Kundgebung in Köln vor elf Tagen, bei der etwa 40.000 Demonstranten ihre Sympathie für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan bekundeten – und dabei auch lautstark die Wiedereinführung der Todesstrafe in der Türkei forderten. Dass die Kundgebung Konsequenzen für das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei haben würde, war angesichts der Entwicklung in den vergangenen Monaten nicht verwunderlich. Dass daraus nun aber auch eine innenpolitsche Debatte entstehen würde und einige Politiker der Union die Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft fordern könnten, dafür umso mehr.
Sicherlich ist es mehr als befremdlich, dass 40.000 Menschen die Rechte, die ihnen hier zugesichert werden, dazu ausnutzen, um eine massive Verschlechterung der Menschenrechte in der Türkei einzufordern. Ohne Zweifel zählt es zwar zum Wesen einer Demokratie, dass sie einige Paradoxien aushalten muss; und dennoch scheint mir die (An)frage legitim zu sein, ob es tatsächlich von dem im Grundgesetz verbrieften Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt ist, öffentlichkeitswirksam die Todesstrafe einzufordern.
Klassisch-konservative Argumentationsmuster
Der Weg, der nun in Teilen der Union gegangen wird, ist freilich ein ganz anderer – und noch dazu ein ziemlich weit hergeholter! So wird z. B. CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer folgendermaßen zitiert:
„‚Wir müssen zum bewährten alten Staatsbürgerschaftsrecht zurück‘, sagte Scheuer am Donnerstag der Deutschen Presse-Agentur. Es könne nicht sein, dass der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan aufwiegele und Türken mit deutschem Pass die roten Türkei-Fahnen in Deutschland schwenkten. ‚Man kann nicht Loyalität zu zwei Staaten haben. Wer das nicht kapiert, ist ein blauäugiger Multikulti. Ich erwarte hier Einsicht und Vernunft von der SPD.‘“
– Quelle: Stuttgarter Nachrichten
Die Argumentation lautet also: Wenn die Teilnehmer der Kundgebung in Köln allesamt keine doppelte Staatsbürgerschaft hätten, wäre es gar nicht erst zur Kundgebung gekommen (Anmerkung: Mich würde schon interessieren, von wem Scheuer die Information hat, dass alle Teilnehmer eine doppelte Staatsbürgerschaft haben!). Oder etwas zugespitzt: Die jeweilige Staatsangehörigkeit ist der entscheidende Marker dafür, ob die Integration eines Bürgers als gelungen zu betrachten ist oder nicht!
Dass diese Sicht auf Integration eine mehr als verkürzte ist, liegt auf der Hand. Herr Scheuer und seine Mitstreiter ignorieren nämlich, dass Integration nicht auf dem Papier ‚abgearbeitet‘ wird, sondern in erster Linie eine Frage der Identität und der persönlichen Prägung. Wer ernsthaft glaubt, dass sich mit einem Stück Papier auch die kulturellen Wurzeln einer Person verändern, der hat schlicht und ergreifend nicht verstanden, was Integration bedeutet! Dass genau das Gegenteil der Fall ist, dass nämlich durch die doppelte Staatsangehörigkeit der kulturelle Hintergrund eines Bürgers wertgeschätzt wird, habe ich vor drei Jahren schon einmal hier dargelegt (Anmerkung: Interessant ist übrigens, wie aktuell dieser Beitrag auch nach drei Jahren noch ist).
Ein Gedankenspiel
Dass die Forderung nach Abschaffung des ‚Doppelpasses‘ letztlich nichts anderes als reiner Populismus ist, wird deutlich, wenn man folgendes Gedankenspiel durchführt: Was wäre vor elf Tagen tatsächlich in Köln geschehen, wenn es die doppelte Staatsangehörigkeit nicht gäbe, wenn sich die betroffenen Bürger also zwischen der deutschen und der – um beim aktuellen Fall zu bleiben – türkischen Staatsangehörigkeit entscheiden müssten?
Wer in Deutschland lebt und einen Migrationshintergrund hat, wird in den meisten Fällen überlegen, ob es sinnvoll ist, die deutsche Staatsangehörigkeit zugunsten der türkischen aufzugeben. Immerhin ist ein deutscher Pass – im Vergleich zum türkischen – hierzulande mit einer Reihe an Privilegien verbunden: Angefangen vom Wahlrecht, über die freie Wahl des Wohnortes innerhalb der EU und die Visafreiheit in vielen Ländern, bis hin zur Berufsfreiheit (mit allen dazu gehörigen Bestandteilen) gibt es eine Menge an Gründen, die die deutsche Staatsangehörigkeit lukrativer erscheinen lassen.
Dass bei der Entscheidung für die deutsche oder die türkische Option auch andere Gründe eine Rolle spielen, lässt sich nicht von der Hand weisen (auch wenn Herr Scheuer das gerne täte). Deswegen ist es an dieser Stelle selbstredend verkürzt, davon auszugehen, dass man sich am Ende immer für die deutsche Staatsangehörigkeit entscheidet – das wird ja gerade mit Blick auf die bisherige Geschichte der Optionspflicht deutlich. Und dennoch wage ich zu behaupten: Wäre die Optionspflicht vor zwei Jahren nicht abgeschafft worden, hätten vor elf Tagen 40.000 Deutsche für den türkischen Präsidenten demonstriert! Was nun, Herr Scheuer?
Abschließende Gedanken
Noch einmal, um Missverständnissen vorzubeugen: Ich möchte mit diesem Beitrag keineswegs relativieren oder gar verteidigen, was am vorletzten Sonntag in Köln geschehen ist. Die Doppelmoral der Demonstranten im Hinblick auf ihr Demokratieverständnis muss offen angesprochen werden.
Was ich aber sagen möchte – und ich hoffe, dass mir das gelungen ist–, ist, dass die Forderung der Wiedereinführung der Optionspflicht, in der Art und Weise, wie sie gerade hergeleitet wird, auf einem sehr wackligen, weil populistischem Fundament! Zumal noch ein Weiteres hinzukommt: Wenn die doppelte Staatsangehörigkeit tatsächlich abgeschafft würde, beträfe dies hauptsächlich nicht-EU-Bürger (ein französischstämmiger Deutscher z. B. dürfte auch weiterhin beide Pässe behalten)! Herr Scheuer und seine Mitstreiter sind also rechenschaftspflichtig, warum sie, wenn es ihnen doch so sehr darum geht, Deutschland gegenüber „Loyalität“ zu zeigen, andere Staaten nachweislich unterschiedlich klassifizieren.
Die von Herr Scheuer angedeutete Frage freilich, ob man zu mehr als einem Staat loyal sein kann oder nicht, ist eine sehr interessante, wie ich finde. Dabei geht es aber – wenn man mich fragt – weniger um das Problem der Staatsangehörigkeit(en), als vielmehr um die Frage, in welchem Verhältnis Loyalität und bürgerliches Mitbestimmungsrecht zueinander stehen. Dazu komme ich aber noch.