Wie man über das Leid sprechen kann

17. April 2015 Theologie
von Matija Vudjan
Fast vier Wochen sind inzwischen seit dem unbeschreiblich tragischen Flugzeugabsturz in den französischen Alpen, bei dem 150 Menschen verstorben sind, vergangen. Auch 24 Tage nach dieser Katastrophe stellt sich die Frage, wie man über ein solch unermessliches Leid sprechen kann. Kardinal Woelki hat uns heute morgen bei der Trauerfeier für die 150 Verstorbenen gezeigt, wie es gelingen kann.


Wenn sich ein schlimmes Unglück oder eine Katastrophe ereignet, wird eine (sehr legitime) Frage immer wieder unausweichlich: Warum gibt es in dieser Welt überhaupt Leid – und wenn es einen allmächtigen und barmherzigen Gott gibt: wie kann er dieses dann überhaupt zulassen? Biblisch gesprochen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps 22) Die Theodizeefrage ist in der Geschichte der Menschheit vielmals gestellt worden. Eine eindeutige, zufriedenstellende Antwort darauf hat bisher niemand wirklich vorlegen können.

Vor einiger Zeit habe ich selbst einige Gedanken zur Theodizeefrage niedergeschrieben (siehe hier). Heute frage ich mich angesichts der Trauerfeier im Kölner Dom anlässlich des Flugzeugabsturzes am 24. März, ob meine Überlegungen, ob (systematisch-)theologische Überlegungen Trost schenken können. Sind Worte überhaupt imstande, Trost zu schenken? Ich denke, dass sie das sind. Mich haben die Worte des Kölner Erzbischofs Rainer Maria Woelki in der heutigen Trauerfeier tief ergriffen. Das sind Worte, die ich an dieser Stelle sehr gerne – unkommentiert und in Vollständigkeit – mit euch teilen möchte:

Liebe Schwestern, liebe Brüder,

unwiederbringlich ist jeder Moment unseres Lebens. Gerade noch erlebt und geteilt, wird auch diese Trauerfeier heute Mittag bereits lebendige Geschichte sein, Teil des Lebens nach dem Unglück, nach dem schrecklichen Einschnitt, den dieses Ereignis vor allem für Sie, liebe Angehörige und Freunde all derjenigen bedeutet, die am 24. März um ihr Leben gekommen sind.

Jede und jeder von Ihnen, aus so vielen Ländern, in denen Menschen Menschen verloren haben, ist sicher auf ganz unterschiedliche Weise verzweifelt, tief traurig oder gar versteinert vor Schmerz. Bloße Worte sind zu schwach, Sie zu trösten. Aber dass wir alle hier sind, und dass auch so viele Menschen in diesem Moment durch die Medien mit uns zusammen Ihnen unser menschliches Mitleid und Beileid zeigen wollen, das soll Ihnen Trost sein, dass Sie nicht allein sind in diesen Stunden der Einsamkeit.

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen! Vielleicht werden das einige von Ihnen gedacht haben, wenn Sie überhaupt an Gott glauben. Natürlich gibt es die Erinnerungen an die geliebten Menschen, und es ist gut, diese kostbaren Erinnerungen wach zu halten. Aber gibt es mehr als diese Erinnerungen? Wir Christen glauben das. Wir glauben an das Ewige Leben. Nicht an ein unendliches Leben, das nach dem Tod einfach so weiter läuft. Nein! Wir glauben an das Ewige Leben, das die Zeit außer Kraft setzt, das über den Tod hinausgeht, aber das wir schon in diesem Leben erfahren können. Sie alle werden sich an Momente mit Ihren Lieben erinnern, die von einer Intensität und Intimität waren, die unzerstörbar ist. Und wir Christen, wir glauben, dass die Summe dieser Momente in Gottes Hand aufbewahrt ist – für immer. Wir glauben, dass diese 150 Menschen nicht verschwunden und nicht ins Nichts gegangen sind, als sie aus der Welt geschieden sind.

Kann man das glauben? In diesem Jahr habe ich mit ganz besonderer Aufmerksamkeit und besonderer Intensität den Karfreitag begangen. Und als dann beim Vortrag der Leidensgeschichte Jesu dessen Ausruf kam „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“, da habe ich besonders an Sie gedacht, liebe Angehörige und Freunde, denn Ihnen ist ja das Liebste in Ihrem Leben genommen worden. „Mein Gott, mein Gott warum hast Du mich verlassen“, das ruft nicht irgendwer. Jesus Christus ist es, der das ruft, der Sohn Gottes. Er leidet unschuldig – nicht scheinbar –, sondern wirklich. Er hat sich das nicht ausgesucht. Er leidet aus Liebe. Wie Sie.

Ist es wirklich ein Trost für uns Menschen, dass Gott selbst mit unserem Leid mitleidet? Gott ist die Liebe, so sagen wir Christen. Und ist es nicht gerade die Liebe zu unseren Liebsten, die unser Leid so schmerzlich macht, aber die uns auch die Kraft gibt, es zu ertragen? Stark wie der Tod ist die Liebe, heißt es im Alten Testament. Die Liebe ist stärker als der Tod, glauben wir Christen. Die Liebe – sie bleibt. Hier stehe ich nun also: als Mensch, als Christ, als Erzbischof von Köln, und ich habe keine theoretische Antwort auf das schreckliche Unglück vom 24. März 2015. Aber ich kann auf die Antwort zeigen, an die ich selbst glaube, die meine Hoffnung ist: auf den mit-leidenden Gott am Kreuz und ich kann zeigen auf die Auferstehung, auf Ostern, auf das ewige Leben. Das verkündeten die Apostel, wie wir gerade hörten, und in diesem Glauben versammeln sich Christen seit mehr als 1600 Jahren Tag für Tag genau hier an dieser Stelle in Köln, an der jetzt dieser Dom steht, in dem auch wir in dieser Stunde zusammengekommen sind.

Wir befinden uns damit also an einem Ort, an dem Menschen seit Jahrhunderten füreinander und miteinander gebetet haben und das bis heute so weiter tun, getragen von der Hoffnung, dass es ein Leben nach dem Tod gibt – für alle unsere Verstorbenen. Ich möchte Sie deshalb einladen – auch und gerade, wenn Sie nicht beten können oder nicht beten wollen, weil Sie es vielleicht nie gelernt haben, oder weil es Ihnen durch den Verlust des geliebten Menschen im Moment nicht möglich zu sein scheint – ich möchte Sie einladen hier und jetzt, sich tragen zu lassen von all denen, die für Sie und mit Ihnen für Ihre Lieben beten.

Das Band des Miteinanders – wie es unser Bundespräsident so einfühlsam bezeichnete – dieses Band des Miteinanders, das in den Tagen nach dem Unglück in Gottesdiensten und Trauerbekundungen und durch die Solidarität so vieler Menschen über Grenzen hinweg entstanden ist, ist ein Band, das ins Leben zurückführen will. Denn der Mensch lebt nicht vom Brot allein … Menschlichkeit und Annahme genau dort, wo die Trauer Menschen versteinern lassen will – Menschlichkeit und Annahme sind das, was wir Menschen einander schenken können: durch Zärtlichkeit und Zuwendung, durch Zuhören und Zutrauen.

Persönlich bin ich davon zutiefst überzeugt: Wenn wir einmal selbst unsere Augen schließen werden, dann werden wir auf ewig mit unseren Lieben gemeinsam sehen, dass Gott alle Tränen abgewischt hat, und dass die eigene einzigartige Welt jedes einzelnen Menschen, sein erster Kuss und ihr erster Schnee, seine Hoffnungen und seine Narben, niemals dem Vergessen preisgegeben, sondern von Gott auf ewig aufgehoben, gehütet und beschützt sind. Denn: Er bewahrt das Andenken – an unsere Angehörigen und dereinst auch an uns selbst. Ganz sicher. Amen.

Quelle: dbk.de

So kann es, denke ich, gelingen. Es ist und bleibt aber eine sehr schmale Gratwanderung.

Dieser Beitrag stammt von: Matija Vudjan

Student der katholischen Theologie an der Ruhr-Universität Bochum. Autor des Blogs durchgedacht.
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