Kurz gedacht: Zur Politikverdrossenheit in unserer Gesellschaft

17. September 2014 Gesellschaft
von Matija Vudjan

Der „Herbst der Landtagswahlen“ ist seit vorgestern vorbei – aus demokratischer Sicht ist er aber alles andere als positiv verlaufen: In Sachsen und Brandenburg lag die Wahlbeteiligung bei enttäuschenden 49,1 respektive 47,9 Prozent; in Thüringen war sie mit 52,7% immerhin etwas höher. Erkennbar ist in unserer Gesellschaft meines Erachtens also eine klare Tendenz zu Politikverdrossenheit – nur was sind die Gründe dafür? Und wie kann dann ein Lösungsansatz aussehen?


Bei solch erschreckenden – und aus polit-demokratischer Sicht beschämenden Zahlen wäre es sicherlich ein Fehlschluss, alle Nichtwähler als politikverdrossen zu kategorisieren. Immerhin hört man von unterschiedlichen Menschen immer wieder, dass sie ganz bewusst nicht wählen gehen, weil sie sich vom aktuellen „Angebot“ der politischen Parteien nicht angesprochen fühlen. Sicherlich gibt es auch aus anderen Gründen überzeugte Nichtwähler, sodass diese Gruppe alles andere als klein zu reden ist, aber grundsätzlich denke ich, dass der Großteil derjenigen, die am Wahltag nicht in ihr Wahllokal gehen, den Ruf aus Politik und Gesellschaft schlicht nicht mehr wahrnehmen.

Unions-Franktionsvorsitzender Volker Kauder
Foto: Chr. Medienmagazin pro/Flickr; Liz.: CC BY-SA 2.0

Gewiss: es ist tendenziell schwierig, in einem solchen Umfeld über Gründe und Ursachen nachzudenken. Ich glaube aber, dass bestimmte Aussagen unserer Politiker (die möglicherweise eher unbewusst getroffen werden) hier eine entscheidende Rolle spielen: Als der scheidende Ratsvorsitzende der EKD, Nikolaus Schneider, vor einigen Wochen bekundete, seiner Frau beizustehen, sollte diese Sterbehilfe in Anspruch nehmen, erklärte Volker Kauder, Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag, dass die Debatte um die Sterbehilfe durch die Aussage Schneiders nicht einfacher geworden sei. Dabei benutzte er auch folgenden Wortlaut:

„Es ist wenig hilfreich, wenn der EKD-Ratsvorsitzende als Betroffener zu dieser existenziellen Herausforderung Interviews gibt.“
– Quelle: presseportal.de

Als ich diese Aussage vor einigen Wochen verlas, musste ich zwei Mal hinsehen; je länger ich darüber nachdenke, desto mehr wird mir klar, dass dieser Satz schlicht und ergreifend ein Fehlschluss ist – vor allem im Hinblick auf die Begrifflichkeiten der Politik sowie der Demokratie!

Kurz zur Klärung (dann wird auch deutlich werden, was ich meine): Etymologisch haben „Politik“ und „Demokratie“ ihren Ursprung im antiken Griechenland – und damit ganz bestimmte Konnotationen. Politik stammt vom griechischen Begriff πολιτικά und meint wörtlich „alles, was die Stadt (πόλις) [und damit das Leben derjenigen, die in der Stadt leben] betrifft“. Demokratie (von gr. δημοκρατία) bedeutet nichts anderes als „Herrschaft des Volkes“. Beide Begriffe haben also eine gesamtgesellschaftliche, d. h. „offene“ Dimension – sie sind also nicht isolierend zu verstehen.

Ich habe den Eindruck, dass Volker Kauder sein Amt als Politiker eben nicht im gesellschaftlichen Bezug versteht, sondern die Politik als eine in sich geschlossene Gesellschaft sieht – so zumindest lese ich seine Antwort auf die Aussagen Nikolaus Schneiders. Genau diese Denkform halte ich jedoch für fatal, gerade auch im Hinblick auf die nachweislich immer stärker wachsende Politikverdrossenheit in unserer Gesellschaft. Gerade wenn es um (ethische) Fragen geht, die die gesamte Gesellschaft betreffen, dürfen Entscheidungen nicht im kleinen Kreis getroffen werden; vielmehr müssen möglichst alle gesellschaftlichen Schichten – und damit dann sowohl in der konkreten Situation Betroffene als auch Außenstehende – in den Entscheidungsprozess mit einbezogen werden!

Gesamtgesellschaftlicher Dialog – sicherlich handelt es sich dabei nicht um den Schlüssel für die Bekämpfung der Politikverdrossenheit, aber er kann doch als ein Schritt in die richtige Richtung dienen. Wenn man es schafft, den Menschen zu verdeutlichen, dass politische Diskurse – unter der Prämisse, dass die Politik keinen Selbstzweck verfolgt, sondern am gesamtgesellschaftlichen Dialog interessiert ist – für jeden einzelnen von Bedeutung sind und man ferner klar machen kann, dass es im politischen Spektrum verschiedene Parteien bzw. Angebote gibt, von denen jedermann angesprochen werden kann, ist ein solcher Schritt ein großer. Dann muss sich aber tatsächlich auch die Haltung der Politik, in diesem Fall namentlich Herr Kauder, ändern!

Dieser Beitrag stammt von: Matija Vudjan

Student der katholischen Theologie an der Ruhr-Universität Bochum. Autor des Blogs durchgedacht.
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5 Kommentare zu „Kurz gedacht: Zur Politikverdrossenheit in unserer Gesellschaft“

  1. Wahrgenommen habe ich Kauders Äußerungen nicht. Was aber nichts an der Tatsache ändert, dass sie dummes Zeug sind! Man muss sich das mal auf der Zunge zergehen lassen: Ein Betroffener äußert sich und das soll wenig hilfreich sein.

    Tatsächlich halte ich recht wenig von den Äußerungen Schneiders und noch weniger von den verkürzten medialen Berichten über sie. Aber ob dieses Zitat dazu geeignet ist das Phänomen "Politikverdrossenheit" zu erklären oder zu veranschaulichen, halte ich doch für etwas weit hergeholt. Nicht das ich deinen Einschätzungen nicht mehrheitlich zustimmen würde. Die Demonstratio passt nicht zur Positio, um es mal in scholastischer Begrifflichkeit auszudrücken.

    Das Politik von einer eigenen Kaste an Politikern gemacht wird, muss nicht nur etwas negatives haben. Es ist eines der großen Mythen demokratischer Systeme, dass die Beteiligung von jeder Mann am ausführenden politischen Geschehen "besser" ist. Historisch gesehen zeugt eine politische Kaste zumeist von einer großen Stabilität einer Gesellschaft, eine hohe Fluktuation hingegen von gesellschaftlichen oder staatlichen Übergangsprozessen verursacht etwa durch den Untergang eines Reiches/Staates oder eine Revolution mit der Folge eines Elitenaustausches.

    Das Problem einer Demokratie ist, dass sie sich als Herrschaft des Volkes versteht und nicht einer privilegierten Kaste. Das Problem der Politikverdrossenheitstheoretiker ist, dass sie die Herrschaft des Volkes an Wahlbeteiligungen messen. Tatsächlich ist die Wahl als Ausdruck eines konstruktiven Willenbildungsprozesses nur ein geringer Teil des demokratischen Systems. Wer also Wahlbeteiligung mit Identifikation innerhalb und/oder mit der πόλις gleichsetzt, verwechselt den volonté de tous mit dem volonté générale.

    Die meisten "Poltikverdrossenen" dürften wohl einfach nur erkannt haben, dass das κράτειν nicht in der Wahl stattfindet, sondern in der Exekutive und in der Postmoderne auch immer weniger in der Legislative. Auf beide Prozesse, die eigentliche Regierungsbildung und die Gesetzgebung haben sie kaum Einfluss, dass Parteiensystem verhindert dies. Ob direkte Herrschaft wie in der Schweiz da eine Lösung des Problems ist darf bezweifelt werden, dort liegt die Beteiligung bei Gemeindeversammlungen mittlerweile zum Teil bei unter 20%.

    Mir scheint viel plausibler, dass sich in unserer postmodernen, multikulturellen Gesellschaft einfach klassische Bindungsstrukturen auflösen. Die Leute gehen nicht mehr zur Kirche und eben auch nicht mehr zur Wahlurne. Die Nation, das Land, die Gemeinde haben angesichts sozialer Mobilität, sowie vertikaler und horizontaler Flexibilität westlicher Gesellschafte nicht mehr die gleiche Bedeutung wie früher für unser Privatleben. Auch ohne kann ich mein Leben weitgehend selbstbestimmen. Sie gestalten die Herrschaft in unserer Gesellschaft durchaus, aber eben ausserhalb der Systeme, die gemeinhin als Ausdruck dieser Herrschaft gelten (Regierungen und Parlamente).

    Das Problem demokratischer Prozesse wird immer bleiben, dass sie ein abstraktes philosophisches und staatstheoretisches Konstrukt sind. Sie sind nicht evident. Der Zusammenhang zwischen Wahl und Herrschaftsausübung zunehmend eine Marginalie. Zumal sich diese Entwicklung durch zunehmende supranationalisierte Gesetzgebung noch verschärfen wird.

    Bleibt also die Frage, welche Möglichkeiten haben wir zukünftig den volonté de tous (!) wieder mehr zur Geltung zu bringen und nicht nur in Wahlen zu kanalisieren suchen um im volonté générale eine abstrakte Legitimation für eine Oligarchie politischer Eliten zu haben.

    Ich glaube, ich habe hier gerade die Vorarbeit für einen eigenen Blogeintrag geliefert. Was seine Bedeutung als Kommentar zu deinem nicht schmälern soll. Ich würde mich freuen, wenn du ihn dann auch kommentieren und kritisieren würdest (d.h. sobald ich meine Gedanken noch etwas konkreter zu Papier gebracht habe).

    Beste Grüße von http://wissenhochdrei.blogspot.com

  2. Vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar!

    Ich gebe dir Recht: In der Postmoderne sind Begriffe wie „Demokratie“, „Politik“ oder „Republik“ – wenn man die gesellschaftliche Entwicklung ernst nimmt – tatsächlich nichts anderes als Konstrukte. Das ist etwas, das ich in meinen Ausführungen kaum beachtet habe. Ich bin aber von der Grundaussage einiger Politiker (zuletzt v. a. Sigmar Gabriel) ausgegangen, dass man dringend etwas gegen sinkende Wahlbeteiligungen tun müsse. Das hätte ich wahrscheinlich deutlicher betonen müssen.

    Wie dem auch sei: dein Kommentar hat mir verdeutlicht, dass unser Problem tatsächlich eines ist, das sich stark auf der Meta-Ebene abspielt. Alleine dafür vielen Dank! Ich werde mich in den kommenden Tagen selbst noch einmal ausführlicher mit dem Thema auseinandersetzen – und freue mich schon sehr auf deinen eigenen Beitrag!

    Übrigens: Vielen Dank für den Hinweis auf deinen eigenen Blog! Ich habe schon einige interessante Posts gefunden, mit denen ich mich noch näher auseinandersetzten möchte – dann aber natürlich als Kommentar an entsprechender Stelle in deinem Blog!

    Herzliche Grüße
    Matija

  3. Für den Bürger waren die heimlichen Aktivitäten der DDR-Führung und der Stasi durch den Volksmund und das Fernsehen der BRD relativ durchsichtig gewesen. Nach heutiger Erkenntnis ist das bundesdeutsche System zur Verdummung der Bürger wesentlich ausgeklügelter. Besonders im Justizwesen wird ganz krass die Parallelwelt zur offiziell propagierten Demokratie deutlich. Dieses System ist psychologisch durchdachter und hat den Vorteil, in allen wesentlichen Parteien, Vereinigungen und Medien ihre Leute in der Führung sitzen zu haben. Zudem haben diese Herrschaften die Absicht, ein Ausbeutungs- und Unterdrückungssystem zu schaffen, dass Analogien zum Nationalsozialismus vermuten lässt. Ein Staat ist nicht demokratisch, wenn unter der Oberfläche unlegitimierte und despotische Kräfte das Ruder in der Hand haben. Gerichtlichen und behördlichen Entscheidungen (nebst Justizministerien, Petitionsausschüssen etc.) fehlt wegen gewollter Verdrehungsabsicht der Tatsachen und der Rechtslage zumeist eine plausible Begründung, oft sogar die Sachbezogenheit. Hauptverantwortlich für das perfide Rechtschaos mit Methode sind die Parlamentsabgeordneten, das Bundesverfassungsgericht und auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. Einzelfallgerechtigkeit gibt es selbst in schwersten Fällen für die meisten Betroffenen nicht. Das bedeutet, sie sind hilflos der Willkür des Staates und den schweren Folgen dieser Willkür ausgeliefert. Der Schutz des Grundrechts steht zwar auf dem Papier, wird aber in der Praxis weitgehendst ignoriert (von http://unschuldige.homepage.t-online.de/ ). Der Mit permanenten Rechtsbruch wird die dramatische Verarmung der Bevölkerung betrieben (vgl. http://unschuldige.homepage.t-online.de/flugblat.htm ). Rechtsbrüche und Rechtsbeugungen sind systemkonform, vgl. http://www.odenwald-geschichten.de/?p=1740 . Einen Rechtsstaat haben wir nicht, vgl. http://www.hoerbuchkids.de/hu/mr/homepage/justiz/info.php?id=134 . Was nützt der beste Rechtsstaat auf dem Papier, wenn er in die Köpfe und die Herzen der Menschen, die ihn vertreten sollen, keinen Eingang finden kann? (vgl. http://www.wengert-gruppe.de/wengert_ag/news/2003/SteuerstrafverfinDeutschland.pdf ).
    Die Türen werden geöffnet für eine Gesinnungs-Justiz, in der das Recht auf freie Rede begraben wird. Deutschland flirtet mit der Diktatur, vgl. http://deutsche-wirtschafts-nachrichten.de/2013/11/11/polizei-staat-soll-gesinnung-ueberwachen-deutschland-flirtet-mit-der-diktatur/ . Was wir bekommen ist noch viel schlimmer als STASI und GESTAPO zusammen, stellt Prof. Albrecht fest- https://www.youtube.com/watch?v=uOT1CkVyS18 . Gewaltenteilung, Grundgesetz, Verfassung und Verfassungsschutz und die Lehren dazu werden für den Obrigkeitsstaat und die Diktatur zurechtgebogen. Die Verhältnisse werden heuchlerisch als Rechtssicherheit angepriesen – vgl. z.B. http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/recht-a-z/22781/rechtssicherheit . Kaum irgendwo wird die Gerechtigkeit dermaßen zur Hure wie dort, wo Justitia allein oder überwiegend vom Erfolg der Machtausübung abhängt. Ein Problem war und ist der einseitige Gebrauch und Missbrauch von Macht und Recht- vgl. http://ubt.opus.hbz-nrw.de/volltexte/2011/695/pdf/25_Kopp_EBook.pdf . Die Organisationsstrukturen des kaiserlichen Obrigkeitsstaates blieben bis heute erhalten (vgl. http://www.gewaltenteilung.de/idee ). Diese Strukturen sind oberfaul und sie werden miserabler, so lange sich die Diktatur in den Köpfen der Machthaber ungehindert fortentwickeln kann. Die Diktatur hat sich schon hinreichend bewaffnet, jedenfalls hat sie alle Organe des Staates fest in ihrer Hand (vgl. http://info.kopp-verlag.de/hintergruende/deutschland/prof-dr-karl-albrecht-schachtschneider/ein-weiterer-schritt-zur-diktatur.html ).

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