Noch bevor er sich gestern mit Bundeskanzlerin Merkel traf, sprach Erdoğan vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik und warb tatsächlich für eine intensivere Unterstützung Deutschlands für eine Aufnahme der Türkei in die EU. Dabei machte er deutlich, dass die Türkei als wirtschaftlicher Motor (77 Millionen Einwohner sowie stetig wachsende Wirtschaft, nationale Einkommen und Exporte) für die EU unersetzlich sei. Das 21. Jahrhundert sei ohne die Türkei sogar nicht gestaltbar.[1]
Man sollte die EU nicht zu sehr runterbrechen
Betrachtet man die Argumentation des türkischen Regierungschefs lediglich aus einem wirtschaftlichen Blickwinkel, so kann man sie wohl bedenkenlos unterschreiben. (Auch im Blick auf den Nahost-Konflikt wäre eine türkische EU-Mitgliedschaft wahrscheinlich von Vorteil.) Erdoğan unterschlägt aber – oder er ist sich dessen tatsächlich nicht bewusst -, dass Europa und in diesem Sinne auch die Europäische Union mehr als nur ein wirtschaftlicher Zusammenschluss sind.
Ich habe bereits im vergangenen Jahr anlässlich des EU-Beitritts Kroatiens erörtert (siehe hier), dass die Europäische Gemeinschaft Anfang der 1950er Jahre zwar auch als wirtschaftlicher Zusammenschluss gegründet wurde, entscheidend aber war, dass sich das Grauen des 2. Weltkrieges nie wiederholen sollte.
Trotz – oder gerade wegen – der vielfältigen Diversität zwischen den einzelnen Staaten Europas (oder auch der EU) gibt es doch ein Band, eine Basis, die alle europäischen Staaten miteinander verbindet: die Basis der christlich-abendländischen Entwicklung, aus der in ganz Europa die gleiche Vorstellung von Gesellschaft und Recht entstanden ist.
Für den Beitrittsprozess der Türkei bedeutet dies weiß Gott nicht, dass sie sich zur christlich-abendländischen Kultur bekennen muss. Das wäre ein vollkommener Trugschluss in Richtung der EU, die sich ja zugleich auch durch eine vielfältige Pluralität der Kulturen auszeichnet; und auch der türkischen Kultur würde dies nicht gerecht werden. Aber es bedeutet, dass die türkische Politik die ethischen und moralischen Werte, die sich aus dem christlichen Abendland entwickelt haben, anerkennen muss. Werte wie Gerechtigkeit, Freiheit (der Religionsausübung oder der Meinungsäußerung) sowie Gleichheit sind Werte, die elementar mit Europa verbunden sind. Nur mit diesen Werten ist ein Beitritt der Türkei in die EU möglich.
Konkrete Folgen?
Dass aus diesen ethischen Werten konkrete Folgen für den weiteren Beitrittsprozess entstehen, ist klar; deswegen sollen sie hier auch nur exemplarisch und in Kurzform angeschnitten werden. Wichtig ist meines Erachtens die Achtung der Religionsfreiheit – vor allem den nicht-muslimischen Religionen gegenüber. Noch heute werden auch in der Türkei viele Christen wegen ihrer Religion verfolgt und können nicht friedlich leben.
Ein solches Verhalten wird von der türkischen Regierung durch öffentliche Handlungen „ermöglicht“ bzw. legitimiert: so hat der türkische Vizepremier erst vor kurzem angedeutet, dass die Ἁγία Σοφία, gegenwärtig ein Museum, wieder zu einer Moschee umfunktioniert werden soll. (Dass ich damit ein – scheinbar – anderes Thema anspreche, ist mir klar; allerdings war die Ἁγία Σοφία tatsächlich länger Kirche als Moschee. Insofern wäre es ein Zeichen des Respektes – und damit geradezu europäisch -, wenn das Gebäude auch weiterhin als Museum fungierte.)
Ein anderer Aspekt ist derjenige der Meinungs- und Redefreiheit. Die Tatsache, dass im vergangen Jahr viele Demonstranten in gewaltsamer Weise an eben diesem gehindert wurden, ist mit dem europäischen Gedanken der Freiheit als menschlichem Grundrecht nicht einmal im Ansatz zu vereinbaren; gerade auch angesichts der Tatsache, dass die Gewalt zu keinem Zeitpunkt von den Demonstranten selbst ausgegangen ist.
Zusammenfassende Gedanken
Allein aus der ökonomischen (und – angesichts des Nahost-Konfliktes – auch politischen) Perspektive heraus ist ein Beitritt der Türkei in die Europäische Union wohl schon lange überfällig. Die unterschiedliche kulturelle Entwicklung und die daraus resultierenden ethischen bzw. soziologischen Unterschiede sind zum jetzigen Zeitpunkt allerdings noch zu groß. Was nicht ist, kann aber noch werden. Ich hoffe deswegen, dass die Türkei in Zukunft sowohl ein wirtschaftlich als auch ethisch vertrauenswürdiges Mitglied der EU darstellen wird.