Der Relevanzverlust des Christlichen
1950 gehörten noch 95,8 Prozent der deutschen Bevölkerung einer christlichen Konfession an (51,5% evangelisch, 44,3% katholisch; Quelle: fowid.de) – ein Wert, der seitdem sukzessive gesunken ist. Zwar war der Wert zur Zeit der alten Bundesrepublik noch vergleichsweise stabil; spätestens seit der Wiedervereinigung ist er jedoch rapide gesunken. Seit 2003 gehört die (relative) Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr einer der beiden christlichen Kirchen an, sondern ist konfessionslos. Diese Entwicklung wird sich in den kommenen Jahren und Jahrzehnten noch weiter verstärken.
Der offenkundige Relevanzverlust der eigenen Religion, die verloren gegangene Überzeugungskraft der eigenen Religion: kaum ein Thema scheint im innerkatholischen Diskurs so präsent zu sein wie dieses. So wundert es nicht, dass sich viele Autoren die Frage nach den Ursachen dieser Entwicklung stellen – zumal sich diese angesichts der sehr ausgeprägten Religiosität und Spiritualität in unserer Gesellschaft geradezu aufdrängt.
Ein (konservativer) Antwortversuch
Auf eine hoch komplexe Frage wie die soeben genannte gibt es freilich viele Antwortversuche. Nicht selten sind diese ziemlich einfach geraten. So behauptet zum Beispiel mein Bloggerkollege Peter Winnemöller regelmäßig, dass die Amtskirche einen entscheidenden Anteil habe, dass die „Volkskirche“ (!) zugrunde gegangen sei. Erst kürzlich stellte er in einem Artikel, der sich mit der charismatischen Gebetskonferenz „Mehr“ beschäftigte, folgende These auf:
Der Aufbruch, der von [dem Gebetstreffen in; MV] Augsburg ausgeht, muß seinen Weg in der Kirche finden, sonst stirbt er als Strohfeuer. Allerdings muß auch die Kirche – in Deutschland leider in starren Strukturen verhaftet – bereit sein, derartige Aufbrüche wirklich zu integrieren ohne sie gleich in die sterbenden volkskirchlichen Strukturen pressen zu wollen. […] Man will in der deutschen Funktionärskirche derartige Aufbrüche nicht. Das sollte niemanden Wundern [sic!].
Quelle: katholon.de. Markiert im Original.
Wer despektierlich von einer „Funktionärskirche“ spricht, offenbart zwangsläufig seine Haltung zur Amtskirche: Sie ist es, die für den Verfall des Glaubens verantwortlich ist, weil sie sich gegen innovative Aufbrüche stellt.
(Einen kurzen Kommentar zu dieser Argumentation muss ich mir erlauben: Wer war vor sechs Jahren einer der größten Kritiker des Theologenmemorandums „Kirche 2011: ein notwendiger Aufbruch“, das – wenn auch unter anderen Vorzeichen – auch einen Aufbruch in der Kirche begründen wollte? Wer hat anlässlich des Memorandums sogar eine Gegenpetition mit dem Titel „Petition pro ecclesia“ gestartet? Wenn ich mich nicht schwer irre, niemand geringeres als: Peter Winnemöller. Q.e.d.)
Winnemöller vertritt hier übrigens keine Einzelmeinung; ganz im Gegenteil: in vielen konservativen Kreisen wird man ähnliche Denkmuster vorfinden. Ich habe eingangs bereits erwähnt, dass ich eine solche Argumentation für zu verengt halte. Sowohl aus theologischen Gründen (man bedenke die Bestimmung der Kirche als „Volk Gottes“ in LG 9ff. – darauf kann ich hier aus Platzgründen leider nicht weiter eingehen), als auch aufgrund der Empirie. Mit Blick auf andere (europäische) Länder wird deutlich werden, was ich meine.
Ein Blick nach Kroatien
Vor zwei Wochen habe ich einen Artikel in der kroatischen Tageszeitung „Večernji list“ (dt. „Abendblatt“) gelesen, in dem darüber berichtet wird, dass sich gegenwärtig laut einer Statistik 86,10 Prozent aller kroatischen Schüler praktizierende Katholiken sind. Ein bezeichnender Wert, wenn man sich vor Augen führt, dass dieser Wert Mitte der 1980er Jahre (leider wird hier keine konkrete Jahreszahl genannt!) bei gerade einmal 25% lag (1999: 77,2%; 2012: 78,7; Quelle: hier). Laut der besagten Statistik wird die prozentuale Zahl der katholischen Schüler sogar noch weiter ansteigen.
Sicherlich: In einem Land, in dem 86,4 Prozent der Bevölerung römisch-katholisch sind (Stand: 2015; Quelle: Wikipedia), ist es zu erwarten, dass ein ähnlich großer Teil der Schüler derselben Konfession angehören. Gleichwohl ist eine solche Statistik durchaus mit Vorsicht zu deuten, angesichts der Tatsache, dass Kroatien Mitte der 1980er Jahre noch Teil des sozialistischen Jugoslawiens war und es somit in vielen Fällen nicht ungefährlich war, offen zu seiner Religionszugehörigkeit zu stehen (anders kann ich mir den immensen Sprung von mehr als 50 Prozentpunkten zwischen der Mitte der 1980er Jahre und 1999 nicht erklären).
Ja: Man muss, wenn man Vergleiche anstellt, immer auch historische und soziologische Hintergründe sowie Besonderheiten bedenken. Und dennoch muss man – hier in aller Kürze – feststellen: Sowohl in Deutschland als auch in Kroatien hatte und hat die Amtskirche einen nicht zu unterschätzenden gesellschaftlichen Einfluss – in Kroatien ist der Einfluss – so meine These – sogar noch deutlich größer. Trotzdem sind in den zwei Ländern (nahezu) vollkommen gegenläufige Entwicklungen erkennbar: Im einen Land steigt die Zahl steigt die Zahl der praktizierenden Christen stetig an, im anderen sinkt sie ebenso stetig. Wie kann das sein?
Die Antwort ist nicht (alleine) in der Amtskirche zu suchen
Der Winnemöllerschen Logik – starke Amtskirche = schwache „Volkskirche“ – folgend müsste in beiden Ländern empirisch eine sehr ähnliche Situation feststellbar sein. Da dem nachweislich nicht der Fall ist, müssen wir von Gegenteil ausgehen: Offensichtlich liegt die Ursache des Problems nicht alleine in der Amtskirche! Das soll die Kirche nicht von Verfehlungen freisprechen (die es zweifelsohne gegeben hat!), ihr aber die alleinige Verantwortung für eine solch komplexe Entwicklung zuzusprechen, ist zu einfach.
Wer tatsächlich eine Erklärung für die den Glaubensverfall in Deutschland in den letzten 50 Jahren finden möchte, wird an anderen Stellen suchen müssen. Dass dies hier, im Rahmen dieses Beitrags nicht geleistet werden kann, versteht sich von selbst – der Umfang eines solchen Unterfangens würde wahrscheinlich für eine Doktorarbeit ausreichen. Trotzdem möchte ich versuchen, zumindest einige Schlaglichter zu werfen.
Ich habe es bereits angedeutet: Die Gesellschaft von heute ist wahrscheinlich so religiös und spirituell aufgeladen wie keine andere zuvor. Die Sinnfrage ist keineswegs als erledigt zu betrachten, sondern drängt sich stärker auf als je zuvor. Die christlichen Kirchen können ihr Potential in dieser Situation jedoch nicht zum Tragen bringen.
Die Gründe dafür sind – auch das habe ich eingangs bereits erwähnt – äußerst vielschichtig. In der globalisierten Welt, die nicht zu eine Kollektivierung der Welt, sondern vielmehr zu einer Individualisierung geführt hat, ist auch der Religionsbegriff einer wachsenden Individualisierung unterworfen: Man ‚baut‘ sich im Grunde seine eigene Religion, explizit mit der Symbolsprache und den Inhalten, für die man offen ist. Damit geht dauerhaft einher, dass ein Großteil der heutigen Gesellschaft für die kirchliche Sprache – und damit in einem zweiten Schritt auch für ihre Botschaft – nicht mehr empfänglich bleibt. Nicht, weil man sie bewusst ablehnen würde, sondern vielmehr, weil man sie nicht mehr versteht.
Die fehlende Offenheit für die christliche Sprache und Botschaft hat noch einige weitere Ursachen, auf die man in diesem Kontext nicht eingehen muss. Entscheidend ist die Konsequenz dieser fehlenden Offenheit: Der evangelische Theologe Wolf Krötke hat schon vor zehn Jahren die These vertreten, dass wir uns in einem „Zeit[alter] der Gottesvergessenheit“ befinden, also in einer gesellschaftlichen Situation, in der die Gesellschaft vergessen hat, dass sie Gott vergessen hat. Genau diese Entwicklung prophezeite übrigens schon Friedrich Nietzsche in seiner Parabel vom „tollen Mensch“ (1882/87), der bekanntlich rief: „Gott ist tot.“
Die Gründe für die gegenwärtige Situation sind – das sollte klar geworden sein – äußerst vielschichtig. Einfache Lösungen und Antworten – und seien sie noch so verführerisch – gibt es deswegen schlichtweg nicht!
Ein Kommentar zu „Es ist nicht (nur) die Amtskirche“