„Geben Sie Gedankenfreiheit.“

28. Februar 2017 Gesellschaft, Theologie
von Matija Vudjan
Wenn Kirche politisch wird: Im vergangenen Jahr wurde in Köln zu Fronleichnam ein Flüchtlingsboot zum Altar umfunktioniert.
Original-Foto: © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons)
Von Boëthius ist der Satz „Si tacuisses, philosophus mansisses“ überliefert. Was der römische Philosoph ziemlich komplex ausdrückte, ist im deutschen Sprachgebrauch bekannter unter der Redewendung „Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“. Ein solcher Ratschlag ist selten freundlich gemeint, sondern hat häufig eine ausgesprochen despektierliche Note. Genau dies muss in diesen Tagen fatalerweise die Kirche erfahren. Ein Essay.

Kirche und Politik im Diskurs

Wir erleben momentan eine zunehmende Politisierung der Gesellschaft – und auch, so mein Eindruck, der Kirchen. Die evangelische Kirche verstand sich aus ihrer Tradition heraus schon immer als eine politische Kirche; auf katholischer Seite hat man spätestens mit Papst Franziskus wieder verstanden, dass Christsein immer auch eine gesellschaftliche, eine politische Dimension hat. Die Tatsache, dass die beiden großen christlichen Konfessionen heute zudem mit einer gemeinsamen Stimme sprechen – wie es beispielsweise in der Flüchtlingskrise deutlich geworden ist –, verstärkt diesen Eindruck nur.

Die Montagsdemonstrationen in Leipzig (hier am 16.10.1989) wurden von der Kirche initiiert. Ohne Kritik aus den Reihen der CSU. Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1990-0922-002 / CC-BY-SA 3.0

Dass eine sich im politischen Diskurs engagierende Kirche in Gesellschaft und Politik auf unterschiedliche Weise rezipiert wird, versteht sich von selbst. Als sich die Kirche zur Zeit der Wende intensiv an den friedlichen Kundgebungen in der DDR beteiligte, wurde dies von der Politik in Westdeutschland mit großem Wohlwollen aufgenommen. Die Linkspartei in Rheinland-Pfalz hat, auch wenn man es sich nur schwer vorstellen mag, im vergangenen Jahr sogar Wahlkampf mit Papst Franziskus gemacht. In der CSU hingegen, die traditionell ihre Nähe zu den Kirchen betont, wurde in den letzten Wochen und Monaten schon des Öfteren moniert, die Kirchen mögen sich nicht in das politische Tagesgeschäft einmischen. Ganz prominent wird diese Forderung momentan von Markus Söder und Johannes Singhammer vertreten.

In einem Interview mit der evangelischen Nachrichtenagentur „idea“ sagte der bayerische Finanzminister, die Kirche müsse aufpassen, dass sie nicht zu einer Ersatzpartei werde, denn:

„Ich denke, dass es für die Kirche wichtig ist, dass sie der Mission Jesu folgt. Es geht darum, die Menschen von innen zum Leuchten zu bringen.“

– Quelle: idea.de

Seines Erachtens würde die Kirche ihren Auftrag verkehren, wenn sie sich in die Parteipolitik einmische; stattdessen müsse sie dafür Sorge tragen, dass das Bedürfnis der Menschen nach Spiritualität zu erfüllen vermöge. In dieselbe Kerbe schlug in der vergangenen Woche Bundestagsvizeprädisident Singhammer ein, als er in einem Gastbeitrag für die Zeit-Beilage „Christ und Welt“ folgende Behauptung aufstellte:

„Die Kirchen haben das Privileg der Verkündigung der Frohen Botschaft und der letzten Wahrheit. Je mehr in der öffentlichen Wahrnehmung Kirche als Kombattant in der politischen Meinungsbildung wahrgenommen wird, desto mehr wächst das Risiko, dass sich die einzigartige Position der Kirchen in den Augen mancher verunklart. […] Bei fast 400.000 Kirchenaustritten allein im Jahr 2015 sollten katholische und evangelische Kirche sich darauf konzentrieren, Menschen zu erreichen und mitzunehmen. Dass politische Lobbyarbeit dafür der richtige Weg ist, ist unwahrscheinlich.

– Quelle: Zeit online. Markierung durch mich.

Darf die Kirche politisch sein?

Kirche und Politik? Hier widerspricht sich Markus Söder selbst! Foto: StmFLH Bayern

Wenn man sich die Aussagen der Herren Söder und Singhammer vor Augen führt, muss man natürlich bedenken, dass im September der neue Bundestag gewählt wird. Dass eine Partei sich möglichst gegen Kritik von außen – zumal von einer (immer noch) moralischen Institution wie der Kirche – verwehren möchte, ist nur konsequent: Je weniger Kritik es gibt, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Ergebnis bei der Bundestagswahl ein negatives sein wird.

Dennoch sind diese Aussagen harter Tobak: Ist es tatsächlich sinnvoll, der Kirche nahezulegen, sie möge sich nicht mehr am politischen Diskurs beteiligen? Ist es überhaupt vorstellbar, dass die Kirche ihre Stimme nicht mehr erhebt? Aus theologischer Sicht ist die Antwort auf diese Frage meines Erachtens eindeutig.

Das Vermächtnis der Bergpredigt

Darf die Kirche politisch sein? Wer in den vergangenen Wochen den Sonntagsgottestdienst besucht hat, wird dort sehr wahrscheinlich der Bergpredigt (Mt 5-7) begegnet sein. Diese gilt als programmatische Rede Jesu, in deren Zentrum das Thema der Gerechtigkeit steht. Eröffnet wird die Bergpredigt durch neun Seilgpreisungen (Mt 5,3-12), die verdeutlichen: Im Mittelpunkt des Wirkens Jesu stehen die Armen, die Benachteiligten.

Thomas Söding stellt zu den Seligpreisungen unter anderem Folgendes fest:

„Die Seligpreisungen erheben die Stimme der Opfer, indem sie Gerechtigkeit als Inbegriff des Heiles zu hoffen haben, als himmlische Gerechtigkeit, die alle irdische Gerechtigkeit in die Schranken weist und darin machtvoll die Konvergenz von Recht und Gerechtigkeit einklagt – im Interesse derer, die sich in der Welt nicht helfen können […].“

– Söding 2011, 220

Damit ist eindeutig: Die Seligpreisungen sind eschatologisch ausgerichtet und haben eine transzendente Dimension. Gleichwohl impliziert diese Aussage: Nachfolge Jesu bedeutet nicht, auf die Verwirklichung des Reiches Gottes zu hoffen, sondern vielmehr, daran selbst mitzuwirken. Nirgends wird dies so deutlich wie im Gebot der Nächstenliebe, das Jesus sogar zur Feindesliebe erweitert (vgl. Mt 5,43 par.) – und beim letzten Abendmahl zu seinem ‚Testament‘ macht:

„Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid: wenn ihr einander liebt.“

– Joh 13,34f.

Nächsten- und Feindesliebe kann nur vollzogen werden im Hier und Jetzt. Nächsten- und Feindesliebe als Zeichen der radikalen Nachfolge Jesu kann gar nicht anders gedacht werden als im konkreten Miteinander, also im weltlichen Vollzug des Reiches Gottes. Auch hier kann eine prägnante Pointierung von Thomas Söding herangezogen werden:

„[…] gerade dort, wo ihnen Gewalt entgegenschlägt, wo ihre Rechte verletzt werden, wo sie persönliche Schmach zu erleiden haben, wo andere ihnen schuldig geworden sind – gerade dort sind sie [die Jünger Jesu; MV] zur Feindesliebe gerufen. Kein Lebensbereich ist vom Gebot der Feindesliebe ausgenommen. Die Feindesliebe Jesu ist radikalisierte Nächstenliebe.“

– Söding 2011, 574f.

Diese Überlegungen bedürfen sicherlich einer weiteren Vertiefung, für unser heutiges Anliegen dürfte aber aufgezeigt sein: Nachfolge Jesu bedeutet nicht, sich auf die spirituelle Entfaltung seines Glaubens zu fokussieren, sondern vielmehr, sich auf die Seite der Schwachen und Vernachlässigten zu stellen und für sie das Wort zu ergreifen – auch und gerade dann, wenn für diese Menschen mehr getan werden könnte und müsste.

Die politische Theologie nach J. B. Metz

Von Theodor W. Adorno ist der Satz überliefert: „[…] nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben“ (Adorno 1995 [1951], 49). Vor allem der erste Teil dieses Satzes polarisierte im intellektuellen Nachkriegsdeutschland – und prägte gleichwohl den Diskurs über die literarische Verarbeitung der Shoa.

Adorno meinte – so lese ich ihn hier zumindest –, dass kein Schriftstück, kein Text, kein Gedicht imstande sei, sprachlich die gesamte Dimension des Grauens auszudrücken, das sich in Auschwitz vollzogen hatte, dass also kein Gedicht in der Lage sei, dem Zivilisationsbruch Auschwitz ein literarisches Bild zu geben. Einen ähnlichen Gedanken findet man auch in der Theologie. Namentlich Johann Baptist Metz hat die These vertreten, dass eine Theologie nach Auschwitz nur noch dann glaubhaft Theologie sein könne, wenn sie die Perspektive der Opfer stark mache:

„Wir kommen nie hinter Auschwitz zurück, über Auschwitz hinaus kommen wir nie mehr allein, sondern nur noch mit den Opfern von Auschwitz.“

– Metz 1980, 31

Tatsächlich ist es die Perspektive der Opfer, die für die Politische Theologie nach Metz zentral, ja sogar grundlegend ist: Der ans Kreuz genagelte Jesus eröffnet unweigerlich den Blick auf das Leid, weil er sich im Kreuz endgültig auf die Seite der Leidenden stellt, indem er selbst einer von ihnen wird. Von diesem Axiom könne sich, so Metz, eine Theologie – zumal nach Auschwitz – nicht lösen. Dieses Axiom verpflichte dazu, Theologie nicht in einem luftleeren, theoretischen Raum zu betreiben, sondern immer ‚offen‘ für gegenwärtige Unrechtssituationen zu sein.

In einem kurzen Aufsatz fasste Metz dieses Axiom 1993 folgendermaßen zusammen:

„‚Aufwachen, die Augen öffnen‘: diese Aufforderung durchzieht alle biblischen Aussagen. Sie könnte geradezu als kategorischer Imperativ des Christentums gelten. Das Christentum will nämlich dies sein: eine Schule de Sehens, und der Glaube dies: eine Ausstattung der Menschen mit wachen Augen. […] Das Christentum ist kein blinder Seelenzauber, es lehrt nicht – wie Buddha – eine Mystik der geschlossenen Augen, sondern eine Mystik der offenen Augen. Im Entdecken, im ‚Sehen‘ von Menschen, die in unserem alltäglichen Gesichtskreis unsichtbar bleiben, beginnt die Sichtbarkeit Gottes unter uns, befinden wir uns auf der Spur Gottes.“

– Metz 1993, 296f.

„Menschen, die in unserem alltäglichen Gesichtskreis unsichtbar bleiben“: Genau diese sind die Leidenden, mit denen sich Jesus im Kreuz solidarisiert hat. Diesen Menschen mit offenen Augen begegnen – und sich ihnen zuwenden: Das bedeuten lebendiger Glaube und Christusnachfolge im Sinne Metz‘. In diesem Sinne müssen Theologie und Kirche politisch sein, wenn sie sich ihre eigene Glaubwürdigkeit erhalten wollen. Es ist folglich nur konsequent, dass sich kirchliche Würdenträger in der letzten Zeit vermehrt zu sozialpolitischen Ungerechtigkeiten geäußert haben. Sie erfüllen damit schlicht und ergreifend ihre Pflicht als Theologen!

Spiritualität statt Politik

Ein Klassenraum mit einem Kruzifix. Foto: Stefan-Xp/Wikimedia Commons; Lizenz: CC BY-SA 3.0

Bis hierhin dürfte zu Genüge aufgezeigt worden sein, dass es dem Wesen von Kirche und Theologie diametral widerspräche, wenn sie sich angesichts von gesellschaftlichen Verfehlungen nicht mehr zu Wort melden würde.

Ein weiterer Punkt muss allerdings noch genannt werden! Wir erinnern uns: Ich habe oben bereits angedeutet, dass Markus Söder die Kernkompetenz der Kirche im Bereich der spirituellen Vermittlung sieht und nicht in der Sozialpolitik. Konkret wird er bei „idea“ folgendermaßen zitiert:

„Warum ist in Buchläden die Nachfrage nach Esoterik so groß? Weil es ein Bedürfnis nach Spiritualität gibt. Die Aufgabe der Kirche ist es, dies mit der Botschaft des christlichen Glaubens zu füllen.“

– Quelle: idea.de

Ob diese Aussage tatsächlich wahr ist, sei einmal dahingestellt – ich glaube, dass man diese beiden Dimensionen voneinander gar nicht erst trennen kann –; viel wichtiger sind mitunter die Konsequenzen, die aus dieser Aussage erwachsen. Dieser sind sich nämlich – davon bin ich überzeugt – weder Herr Söder, noch Herr Singhammer bewusst.

Was würde eine ‚stille‘ Kirche bedeuten?

Beide Politiker sind engagierte Christen – als solche müssen sie sich, wenn sie der Kirche nahelegen, sie solle sich nicht politisch nicht äußern, darüber im Klaren sein, was genau „Kirche“ bedeutet. Natürlich beziehen Herr Söder und Herr Singhammer – der eine dezidierter, der andere weniger – den Kirchenbegriff in diesem Kontext auf die kirchlichen Würdenträger, die als moralische Autoritäten im gesellschaftlichen Diskurs ein großes Gewicht haben – darauf habe ich zu Beginn ja bereits hingewiesen. Ein solch elitärer Kirchenbegriff greift aber – und hier liegt die Krux! – viel zu kurz.

Die Kirche ist konstituiert als Gemeinschaft der Glaubenden (der aus der protestantischen Tradition stammende und von der katholischen Kirche im II. Vatikanum übernommene Begriff des „allgemeinen Priestertums“ meint theologisch – hier in aller Kürze – dasselbe). Warum sollte vor dem Hintergrund dieses Kirchenbegriffes unterschieden werden zwischen Bischöfen, die schweigen sollen, und ‚einfachen‘ Gläubigen, die sich politisch äußern dürfen? Das ist ekklesiologisch schlicht und ergreifend nicht möglich! Zumal eine solche Unterscheidung juristisch gesehen erst recht obsolet ist.

Wer also fordert, „die Kirche“ möge sich doch bitte nicht an der politischen Debatte beteiligen, der muss im Grunde jedem Christen den Mund verbieten. Eine solche Forderung läuft letzten Endes auf die Verbannung (je)der Religion in den privaten Raum hinaus – mit allen daraus folgenden Konsequenzen. Dass die CSU, die sich auf ihr jüdisch-christliches Wertefundament beruft und die bis heute darauf besteht, dass in Bayern in öffentlichen Gebäuden Kruzifixe aufgehängt werden, das tatsächlich will, darf durchaus bezweifelt werden.

Nichtsdestoweniger sollte man solchen Forderungen entschieden entgegentreten. Im Grunde ist dies, nach allem, was soeben erörtert worden ist, sogar die Pflicht eines jeden Christen.

Schlussbemerkung

Ich habe diesen Essay mit einem literarischen Zitat begonnen – und möchte ihn auch mit einem solchem abschließen. Friedrich Schiller hat in seinem dramatischen Gedicht „Don Karlos“ (uraufgeführt 1787) den Marquis Posa im zehnten Auftritt des dritten Aktes (V. 3215) einen Satz aussprechen lassen, den ich gerade für den hiesigen Kontext als grundlegend erachte, und der meines Erachtens im Rahmen eines jeden gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Diskurses eine Richtschnur sein sollte:

„Geben Sie Gedankenfreiheit.“

Dieser Beitrag stammt von: Matija Vudjan

Student der katholischen Theologie an der Ruhr-Universität Bochum. Autor des Blogs durchgedacht.
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