Zum Hintergrund der aktuellen Debatte
Mitnichten: Die Debatte um die Frage, ob und inwiefern Sterbehilfe in Deutschland erlaubt werden soll, ist zweifelsohne keine neue: vielmehr begleitet sie uns seit Beginn dieser Praxis. Man kann wohl auch ohne Zweifel sagen, dass es neben der Abtreibungsfrage keine weitere ethische Debatte gibt, die bereits so ausführlich und lange geführt wird. Dabei habe ich den Eindruck, dass sich die beiden Extreme im Laufe der Debatte vor allem ideologisch, d. h. auf die Konsequenz der eigenen Position bezogen, immer weiter voneinander entfernt haben.
Die Aussage Nikolas Schneiders
Umso bemerkenswerter – und entscheidender im Sinne der Argumentationskohärenz – erscheint mir der Schritt, den Nikolaus Schneider nun in einem Interview mit dem „Stern“ gegangen ist. Auf die Frage, ob er seine an Krebs erkrankte Frau auch unterstützen würde, wenn diese Sterbehilfe in Anspruch nehmen würde, antwortete er: „Für Anne würde ich auch etwas gegen meine Überzeugung tun.“ Jedoch würde er alles versuchen, seine Frau „für einen anderen Weg zu gewinnen“.
Gewiss: Schneider hat das Interview – zusammen mit seiner Ehefrau – als Privatperson und angesichts seiner momentanen sowie (möglichen) zukünftigen privaten Situation gegeben. Wahr ist auch, dass er sofort nach dem „entscheidenden“ Satz bekundet hat, dass Sterbehilfe grundsätzlich nicht mit seiner persönlichen Überzeugung vereinbar sei.
Aber: Nikolaus Schneider ist immer noch Ratsvorsitzender der EKD. Alleine deswegen ist er eine Person des öffentlichen Lebens; sein Wort hat seit Jahren Gewicht (ganz abgesehen von der – unbegründeten – Tatsache, dass Institutionen sehr oft mit ihrer öffentlich-präsenten Person gleichgesetzt werden – ich kann mir gut vorstellen, dass einige Menschen die Aussage Schneiders jetzt als Aussage der EKD interpretieren). Es ist jetzt also die Situation einer doppelten Positionierung entstanden: Die EKD lehnt Sterbehilfe grundsätzlich ab, während ihr Ratsvorsitzender in bestimmten Fällen bereit ist, diese zu unterstützen.
Reaktionen aus Politik und Kirche
Auf der einen Seite sorgt die Aussage Schneiders jetzt für Verstimmungen innerhalb der EKD – zumal der Vorsitzende erst vor kurzen selbst jegliche Form der organisierten Sterbehilfe verurteilt hatte. Grundsätzlich, so die Befürchtung einiger, könne unter der momentanen Situation die Glaubwürdigkeit der EKD sowohl in dieser speziellen als auch allgemein in ethischen Fragestellungen leiden. Volker Kauder, seines Zeichens Fraktionsvorsitzender der Unionsparteien im Bundestag, ließ – angesichts der für nächstes Jahr geplanten Neuregelung des Sterbehilfegesetzes – kurz nach Erscheinen des Interviews verlauten, das Thema der aktiven Sterbehilfe sei „nicht einfacher geworden“.
Auf der anderen Seite wurde Schneider für seine Aussage auch verteidigt – durchaus auch aus den eigenen Reihen: Ein Sprecher der EKD ließ verlauten, dass man 2012 – mit Nikolaus Schneider als Vorsitzendem – ein Papier veröffentlicht habe, in dem man klar für Toleranz für die persönliche Entscheidung im spezifischen Fall plädiert habe. Wolfgang Huber, selbst ehemaliger Ratsvorsitzender der EKD, erklärte, dass das eigene Gewissen sowie die offizielle Positionierung der EKD durchaus nebeneinander stehen könnten.
Fassen wir an dieser Stelle kurz zusammen: Wir haben eine neu entstandene und intensiv geführte Debatte um die Frage, ob und inwiefern Sterbehilfe erlaubt werden kann bzw. darf, und wenn ja, in welchen Rahmen sie erlaubt sein darf. Meines Erachtens ist es tatsächlich an der Zeit, dass diese Debatte intensiv und (zugleich) sachlich geführt wird. Zumal sich inzwischen immer mehr aktive Politiker positionieren: Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach hat sich im aktuellen Spiegel für eine Lockerung der bestehenden Gesetze geäußert – vor allem im Hinblick auf die Rolle der Ärzte (s. hier); auch der CDU-Politiker Peter Hintze tritt für eine ähnliche Position ein (vgl. hier). Aus diesem Grund möchte ich mich in dieser schwierigen Thematik – so viel sei bereits vorweg genommen – zwar nicht positionieren, aber mich ihr wenigstens theologisch nähern und einen kleinen Ausblick wagen.
Theologische Überlegungen zur Sterbehilfe
Grundsätzlich möchte ich klarstellen: Man kann sich faktisch jeder Thematik, wenn man sie theologisch betrachtet, aus verschiedenen Blickwnkeln nähern – angesichts verschiedener Strömungen innerhalb der Theologie. Ich möchte für diesen Zweck die „klassische“ katholische Position, die vom Lehramt vertreten wird, erörtern und dem eine theologisch-anthropologische Argumentation gegenüberstellen, die auf dem philosophischen Begriff der Freiheit beruht.
Die Argumentation des Lehramtes
Hinter der anthropologisch-ethischen Argumentation der Kirche steht ein ganz bestimmtes, biblisch fundiertes Gottes- (und somit auch Menschenbild): Gott ist der Schöpfer des Himmels und der Erde. Ganz analog ist folglich auch der Mensch ein Geschöpf Gottes. Entscheidend für diese Argumentation ist der biblische Schöpfungsbericht:
„Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild Gottes schuf er ihn.“
– Gen 1,27
Man kann diese Zeile gewiss theologisch weiter vertiefen: Als Geschöpf Gottes hat der Mensch den Ursprung seines Seins nicht innerhalb, sondern außerhalb seiner selbst. Dieser Gedankengang lässt sich noch weiter zuspitzen: Das menschliche Wesen – und damit ist sowohl eine körperliche als auch eine seelische Dimension gemeint – hat seine Daseinsberechtigung nicht aus sich selbst heraus; im Gegenteil: Die menschliche Existenz ist an den Willen Gottes gebunden, ja gar von diesem abhängig!
Vereinfacht gesagt – und so hört bzw. liest man es häufig in katholischen Argumentationen: Das menschliche Leben ist ein Geschenk Gottes; ein Geschenk, über das der Mensch nicht verfügen kann. Selbstredend entstehen daraus eine Konsequenz, für die die Kirche im gesellschaftlichen Diskurs häufig und stark kritisiert wird: Der Mensch darf nicht über das Leben verfügen – diese kirchliche Überzeugung gilt zum einen für das Thema Abtreibung (diese ist aber ein Thema für sich, das hier nicht behandelt werden soll), aber eben auch für die Sterbehilfe.
(Anmerkung am Rande: Es gibt durchaus Menschen, die – diesen Argumentationsweg zusammenfassend – sagen, dass der Mensch nicht entschieden habe, dass er entstehen wird und somit auch nicht über sein Ableben entscheiden dürfe; diese Lesart der Argumentation der Kirche ist meines Erachtens aber sowohl theologisch an den Haaren herbeigezogen, als auch nach den logischen Gesetzen vollkommen falsch.)
Theologisch kann man so durchaus argumentieren. In der heutigen Theologie gibt es aber auch Ansätze, die am biblischen Gottes- und Menschenbild anknüpfen und daraus eine andere Position entfalten:
Ein freiheitstheoretischer Gedankengang
Für unsere weiteren Überlegungen ist es wichtig, sich zu verdeutlichen, dass der soeben vorgestellten Argumentation eine theozentrische Form der Theologie, d. h. ein „Modell“, in dem jede theologische Überlegung vom Gottesbegriff ausgeht, zugrunde liegt. Bis etwa zur Mitte des 20. Jahrhunderts war dieses Modell Standard in der Katholischen Theologie. Erst Karl Rahner, einer der bedeutendsten Theologen des vergangenen Jahrhunderts, entwickelte eine Theologie, die man heute zweifelsfrei als Paradigmenwechsel bezeichnen kann: Er sah ein, dass es zwischen Gott und Mensch ein bestimmtes Verhältnis gibt. Jede theologische Überlegung dürfe deswegen nicht von Gott ausgehen; im Gegenteil: Ausgangs- und Mittelpunkt theologischen Denkens müsse der Mensch selbst sein. Die von Rahner vollzogene anthropologische Wende ist heute faktisch Voraussetzung für systematisch-theologisches Denken und Reden über Gott.
In Rezeption Rahners hat der Theologe Thomas Pröpper einen Ansatz postuliert, in dem der (philosophische) Begriff der Freiheit grundlegend ist: Das Verhältnis zwischen Gott und Mensch wird in diesem Ansatz als freiheitlich verstanden:
[…] Zur Geltung gebracht werden muss, […] dass es Gott selbst ist, der die menschliche Freiheit beteiligt und beansprucht, wenn er sie in der Zuwendung seiner Liebe zu sich befreit. Es ist, mit anderen Worten, der abtrünnige Gedanke, das Verhältnis von Gott und Mensch als das Kommerzium zwischen der freilassenden Freiheit Gottes und der freigelassenen Freiheit des Menschen zu bestimmen […].
– (Quelle: Essen, Georg, Fiat – das freie Ja Mariens. Überlegungen zur Freiheit eines katholischen Christmenschen, in: Söding, Thomas (Hg.), Zu Betlehem geboren? Das Jesus-Buch Benedikts XVI. und die Wissenschaft, Freiburg i. Br. u. a. 2013, 227f.)
Man kann diesen Freiheitsgedanken folgendermaßen zuspitzen: Gott, der sich in Jesus Christus selbst geoffenbart hat, liebt den Menschen so sehr, dass er ihm Freiheit über sein Handeln und damit vollkommene Autonomie gibt. Mit diesem Geschenk der menschlichen Selbstbestimmung zahlt Gott sogar den Preis, dass sich der Mensch als sein Gegenüber in einem freiheitlichen Akt gegen ihn entscheiden kann!
Ein solcher Gedankengang hat nicht nur theologische, sondern auch ethische Konsequenzen: Gott oktroyiert sich dem Menschen nicht auf und lässt ihm damit den Freiraum – so weit in Kürze die theologische Konsequenz –, sich persönlich für oder gegen ihn zu entscheiden. Ethisch und auf unsere aktuelle Fragestellung über Sterbehilfe bezogen bedeutet dies, dass der Mensch die Freiheit haben muss, sich für oder gegen das Leben zu entscheiden. Will man den Gedanken der Freiheit ernst nehmen, muss man (aktive) Sterbehilfe vielleicht nicht grundsätzlich, aber zumindest in bestimmten (Sonder)fällen zulassen! Wenn sich schon Gott nicht über den Menschen stellt, sondern ihn wie ein Gegenüber behandelt, wie kann dann der Mensch anderen Menschen vorschreiben, was in solch einer existentiellen Frage richtig oder falsch ist?
Ein Ausblick
An dieser Stelle lässt sich zusammenfassend sagen: Verschiedene theologische Argumentationen können zu unterschiedlichen Konsequenzen (sowie daraus resultierenden Folgen) führen. Ich habe bereits geschrieben, dass ich mich persönlich schwer mit einer Positionierung tue – und ich möchte mich hier und heute tatsächlich zunächst einmal nicht positionieren; die beiden vorgestellten theologischen Denkformen soll hier zuerst für sich sprechen –, einfach, weil ich beide Denkformen in ihrer Konsistenz nachvollziehen kann: Ja, ich selbst sehe das Leben als Geschenk Gottes – und ich habe tatsächlich Probleme mit der Vorstellung, dass jemand in die Position geraten kann, zu entscheiden, ob und wann ein/das Leben ein Ende nehmen muss. Aber: Ich erkenne auch Probleme, nämlich dann, wenn das Leben (z. B. aufgrund einer schlimmen Krankheit) nicht mehr als Geschenk verstanden wird…
Ich glaube tatsächlich, dass das ein Aspekt ist, der in der bisherigen Diskussion viel zu kurz gekommen ist: Wann ist das Leben (noch) ein Geschenk? Unter welchen Umständen und in welcher Situation ist ein Leben noch lebenswert? Wie sieht ein würdevoller Tod aus? Das sind wichtige Fragen, auf die ich morgen in den kommenden Tagen in einem neuen Artikel eingehen werde und über die ich mich dann einer Positionierung weiter nähern werde.