„Maifest“

27. Mai 2011 Gesellschaft
von Matija Vudjan

Ich habe schon länger kein neues „Gedicht der Woche“ online gestellt. Und da sich der schönste Monat des Jahres seinem Ende zuneigt; habe ich mich dazu entschlossen, ihn mit einem der schönsten Goethe-Gedichte noch einmal gebührend „feiern“:

Maifest (1771)

Wie herrlich leuchtet
Mir die Natur!
Wie glänzt die Sonne!
Wie lacht die Flur!

Es dringen Blüten
Aus jedem Zweig
Aus tausend Stimmen
Aus dem Gesträuch

Und Freud und Wonne
Aus jeder Brust.
O Erd‘, o Sonne
O Glück, o Lust,

O Lieb‘, o Liebe,
So golden schön
Wie Morgenwolken
Auf jenen Höhn,

Du segnest herrlich
Das frische Feld,
Im Blütendampfe
Die volle Welt!

O Mädchen, Mädchen,
Wie lieb‘ ich dich!
Wie blinkt dein Auge,
Wie liebst du mich!

So liebt die Lerche
Gesang und Luft,
Und Morgenblumen
Den Himmelsduft,

Wie ich dich liebe
Mit warmen Blut,
Die du mir Jugend
Und Freud‘ und Mut

Zu neuen Liedern
Und Tänzen gibst.
Sei ewig glücklich,
Wie du mich liebst.

Johann Wolfgang von Goethe

„Der Osterspaziergang“

20. April 2011 Gesellschaft
von Matija Vudjan

Da wir am kommenden Sonnatg Ostern feiern, habe ich dieses Mal ein Ostergedicht aus Goethes Werk Faust ausgesucht:

Der Osterspaziergang (1808)

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
durch des Frühlings holden, belebenden Blick;
im Tale grünet Hoffnungsglück.
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
zog sich in rauhe Berge zurück.

Von dorther sendet er, fliehend nur,
ohnmächtige Schauer körnigen Eises
in Streifen über die grünende Flur;
aber die Sonne duldet kein Weißes:
überall regt sich Bildung und Streben,
alles will sie mit Farben beleben;
doch an Blumen fehlt’s im Revier,
sie nimmt geputzte Menschen dafür.

Kehre Dich um, von diesen Höhen
nach der Stadt zurückzusehen!
Aus dem hohlen finstern Tor
dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern;
sie feiern die Auferstehung des Herrn,
denn sie sind selber auferstanden,
aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
aus Handwerks- und Gewerbebanden,
aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
aus der Straßen quetschender Enge,
aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
sind sie alle ans Licht gebracht.

Sieh nur, sieh! Wie behend sich die Menge
durch die Gärten und Felder zerschlägt,
wie der Fluss, in Breit‘ und Länge
so manchen lustigen Nachen bewegt,
und bis zum Sinken überladen
entfernt sich dieser letzte Kahn.

Selbst von des Berges fernen Pfaden
blinken uns farbige Kleider an.
Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
hier ist des Volkes wahrer Himmel,
zufrieden jauchzet groß und klein.
Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein! 

aus: Johann Wolfgang von Goethe; „Faust I“