Unabhängig von den beiden theologischen Denkformen, die ich in diesem Rahmen bereits erörtert habe, lässt sich folgendes feststellen: Befürworter und Gegner der Sterbehilfe gehen in ihrem Argumentationsgängen von derselben Prämisse aus: „Die Würde des Menschen ist unantastbar!“ Der Unterschied liegt dann in der Konsequenz, die sich in der Argumentation aus dieser Prämisse entwickelt. Am deutlichsten wird dies in der Problematik der Sterbehilfe in Situationen der (schweren) Krankheit: Während Befürworter der Sterbehilfe die Menbschenwürde unabdingbar mit einem freien Willen verknüpft sehen, und daraus folgern, dass ein Mensch, der schreckliche Qualen leidet – also ein würdeloses Leben führt–, qua seiner Menschenwürde das Recht haben muss, frei darüber zu entscheiden, seinem Leben ein Ende zu setzen, argumentieren Gegner der Sterbehilfe eher auf einer grundsätzlichen Ebene: So sei das menschliche Leben immer und unabhängig von einer persönlichen, durch eine schwere Krankheit hervorgerufenen Notlage, würdevoll. Ein Recht auf freies Ableben sei daher mit der Würde des Menschen nicht vereinbar. (Anmerkung am Rande: Dass in christlichen Kreisen in diesem Zusammenhang dann oft auch von der „Kreuzesnachfolge Christi“ gesprochen wird, mag zwar theologisch richtig sein, bringt uns an dieser Stelle ethisch aber nicht weiter, weil es sich hier um kein rein christliches, sondern um ein gesamtgesellschaftliches Problem handelt.)
Persönliche Erfahrungen mit „würdelosem“ Leben
Ich habe in meiner Familie persönlich schon drei Menschen erlebt – Namen möchte ich aus Gründen der Diskretion sowie aus Respekt vor den inzwischen Verstorbenen an dieser Stelle nicht nennen, bitte seht mir das nach –, die im hohen Alter allesamt in einer Lebenssituation waren, die Verfechter der Sterbehilfe möglicherweise als würdelos bezeichnen würden. Alle drei sind bzw. waren aus verschiedenen Gründen bettlägerig, sei es wegen der Blindheit im Alter, wegen eines Schlaganfalls oder wegen einer Beinamputation. Ein selbstbestimmtes Leben im Sinne der Willensfreiheit ist zwar noch möglich; handlungsfreiheitlich betrachtet ist aber das genaue Gegenteil der Fall.
Alle drei sind bzw. waren tiefgläubige und fromme Katholiken (für die folgende Argumentation wird dies wichtig). Mit ihrer neuen Lebenssituation haben sie aber auf unterschiedliche Weise aufgenommen: Es gibt/gab sowohl Hadern mit dem persönlichen Schicksal als auch ein Arrangieren mit der Situation in Form von „Es ist jetzt so wie es ist, also muss ich damit leben“. Gemeinsam war/ist allen dreien der Wunsch, möglichst schnell zu sterben.
Aber: sie haben niemals darüber nachgedacht, für sich Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Womöglich, weil sie als gläubige Christen davon überzeugt sind/waren, dass Gott sie auch in Augenblicken des Leidens begleitet und ihnen – auch wenn es oft nicht so erscheint – die Kraft gibt, die entsprechende Situation durchzustehen. Als Katholik und Theologe bin ich mir sicher: Auf diese Gewissheit darf jedermann rechnen. Aber was ist, wenn jemand dies nicht spürt?
Drei Personen, drei Schicksale, drei Reaktionen auf und Umgangsformen mit dem Leid. Die drei Fälle, die ich gerade – aus einer zugegeben sehr persönlichen Perspektive – umschrieben habe, sind ziemlich ähnlich – und doch so unterschiedlich. Ich denke, dass dabei deutlich geworden ist, dass man unterschiedlichste Krankheitsformen sowie -fälle nicht pauschalisieren darf. Vielmehr muss jeder einzelne Fall angesichts der Reaktion des Betroffenen darauf situativ immer wieder neu betrachtet werden – für die Abschlussbewertung muss dies ein grundlegender Aspekt sein.
Die Würde im Alter
In unserer heutigen Gesellschaft ist die Frage nach der Würde in der Situation der Krankheit bzw. am Lebensende unmittelbar verbunden mit der Frage nach der Würde des Menschen im Alter. Mein – auch hier zugegeben persönlicher – Eindruck ist, dass unsere (kapitalistisch geprägte) Gesellschaft Menschen ab einem gewissen Alter einen deutlich geringeren Wert für das Allgemeinwohl zuspricht als jüngeren Generationen. Anders gesprochen: Ältere Mitglieder unserer Gesellschaft bekommen den Eindruck vermittelt, sie seien überflüssig. Dass man sich ab einem gewissen Alter nicht mehr als Teil des sozialen Lebens einer Gesellschaft fühlt oder das Gefühl hat, nur noch zur Last zu fallen, ist dann fast vorprogrammiert – zumal immer wieder Sätze wie dieser in die Öffentlichkeit treten:
„Ich halte nichts davon, wenn 85-Jährige noch künstliche Hüftgelenke auf Kosten der Solidargemeinschaft bekommen. […] Früher [sind] die Leute schließlich auch auf Krücken gelaufen.“
– JU-Chef Philipp Mißfelder 2003 im Tagesspiegel a. So.
Ich selbst habe in einem Krankenhaus schon folgenden Satz gehört, als eine Frau mit ihrem Vater mit starken Magenkrämpfen in die Notaufnahme kam: „Warum sind Sie hergekommen?! Irgendwann muss er [der Vater] auch sterben!“
Pauschalisieren kann man zweifelsohne nicht, aber: Wer älter ist, fühlt sich in unserer Gesellschaft vielleicht nicht wohl; vielleicht nimmt er oder sie sich sogar nicht als Teil dieser wahr. Vielmehr kann der Eindruck entstehen, dass man für die Gesellschaft eine Last darstellt. Im Falle einer Krankheit kann sich dieser Eindruck selbstredend noch intensivieren. So kann es durchaus sein, dass viele Menschen im Alter den „Wunsch“ äußern, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen und ihr Leben auf diese Weise zu beenden, obwohl sie insgeheim weiterleben sowie schlicht und ergreifend ein aktiver Teil der Gesellschaft sein wollen!
Bevor in der Diskussion um die Sterbehilfe tatsächlich eine Entscheidung gefällt wird, ist es meines Erachtens tatsächlich dringend, dieses substantielle Problem unserer Gesellschaft zu lösen. Ich möchte die – unbegründete – These zur Diskussion stellen, dass der prozentuelle Anteil derer, die für sich erwägen, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen, deutlich sinken würde, wenn ältere Generationen in hierzulande eine größere Wertschätzung genössen! Dass es wiederum Fälle gibt, die über dieses Phänomen hinausgehen, ist selbstverständlich, muss dann aber auch situativ betrachtet werden.
Zusammenfassende Gedanken
Nachdem ich am vergangenen Freitag eine theologische Annäherung an die Debatte der Sterbehilfe versucht habe und ich heute nachträglich – aber dafür umso weniger unwichtig – zwei Dimensionen der Würde erörtert habe, möchte ich nun zu einer Zusammenfassung kommen:
Theologisch argumentierend ist – ich habe es am Freitag bereits herausgearbeitet – sowohl eine Verteidigung der aktuellen Situation als auch eine Befürwortung der Sterbehilfe möglich. Das Problem der Gegner der Sterbehilfe ist meines Erachtens aber, dass ihre Argumentation eine grundsätzlich christliche ist – Nicht-Christen wird also eine Überzeugung aufoktroyiert, die mit ihren eigenen Werten und Idealen im Zweifel schlicht nicht vereinbar ist. Zumal das theologische Moment der Freiheit (bzw. der Möglichkeit der freien Entscheidung) aus christlicher Sicht zwar nur schwer erträglich sein kann, aber eben akzeptiert werden sollte. Schon aus diesem Grund sollte man in Frage stellen, ob die aktuelle Gesetzeslage die richtige ist.
Auch wenn ich also theologisch-soziologische Zweifel an der aktuellen Regelung der Sterbehilfe habe, denke ich grundsätzlich, dass die Debatte, die aktuell geführt wird, weit weniger präsent wäre, wenn sich unsere Gesellschaft der substantiellen Frage nach der Wertschätzung (und der Rolle) älterer Menschen in unserer Gesellschaft. Gerade weil ich es so wichtig finde, möchte ich mich wiederholen: Bevor in der Thematik der Sterbehilfe eine Entscheidung gefällt wird, sollte das Problem der „Alterswürde“ nicht nur angesprochen, sondern auch gelöst werden! Die Problematik der Sterbehilfe wird sich dadurch zwar nicht in Luft auflösen, sie wird aber ohne Zweifel kleiner werden.
Wenn man die Debatte dann tatsächlich weiterführen möchte sowie zu einer Entscheidung kommen möchte, muss meiner Meinung nach ein argumentativer (Kardinals)Fehler, den sowohl die Befürworter als auch die Gegner der Sterbehilfe begehen, abgestellt werden: Sie postulieren de facto allgemeingültige Aussagen, ohne Ausnahmen zu formulieren. Ethisch gesehen halte ich dies für äußerst schwierig – gerade in solch einem (existentiellen) Themenbereich, in dem es – in der Praxis – verschiedenste unterschiedliche Ausprägungen gibt.
Ich möchte deswegen den Vorschlag machen, immer und situativ den Einzelfall zu beachten, d. h., von der aktuellen, sehr allgemein gehaltenen Regelung etwas Abstand zu nehmen. Ich bin ganz klar gegen eine vollständige Lockerung der Sterbehilfe in Deutschland; ich denke allerdings, dass es ethisch angemessen ist, von Fall zu Fall neu über die Problematik nachzudenken – und dementsprechend auch im Einzelfall zu entscheiden, ob Sterbehilfe zulässig und möglich sein kann. Dass es auch im Falle einer solchen Regelung immer noch bestimmter Vorschriften und Regularien (z. B. nach einem ausdrücklichen und klar formulierten Wunsch des Betroffenen über einen längeren, zu bestimmenden Zeitraum hinweg, oder einer klaren Einschränkung, in welchen Situationen oder Krankheitsstadien Sterbehilfe gelten darf) bedarf, versteht sich dabei meines Erachtens von selbst; darum kann und wird man auch bei einer möglichen Lockerung der Sterbehilfepraxis auch in Zukunft nicht herumkommen.