Kirche und Macht – ein historischer Überblick
Ein sehr kurzer Blick in die Geschichte: Nach der Entwicklung zur Staatsreligion im 4. Jahrhundert entwickelte sich im kirchlichen Raum ein ausgeprägtes (und – so viel kann man gewiss sagen – ausgefeiltes) Machtsystem. Staat und Kirche beeinflussten sich im Grunde gegenseitig. Vor allem wird dies deutlich in der Entwicklung zum Hoch- und Spätmittelalter: Bischöfe, die lange Zeit von Fürsten eingesetzt worden waren – damit geht selbstredend ein ganz bestimmtes Staats- und Kirchenverständnis einher –, setzten sich von den weltlichen Territorialgebieten ab und entwickelten ein ganz eigenes Machtverständnis (Notiz am Rande: Es würde den Rahmen sprengen, hier zu erläutern, warum es zu dieser Abspaltung kommen konnte; falls ihr euch näher für das Thema interessiert, könnt ihr gerne unter dem Stichwort „Investiturstreit“ nachschauen!).
Dieses Machtverständnis lässt sich zusammenfassen in der Denkform der „Zwei-Schwerter-Lehre“: Diese besagt, dass es zwei Schwerter gibt: ein geistliches und ein weltliches. Beide Schwerter sind von Gott gegeben, d. h. auf ihn hingerichtet. Gleichzeitig ist das weltliche Schwert dem geistlichen untergeordnet. Durch dieses Bild entsteht eine ganz klare (bildliche) Machtbeschreibung: Gott steht als allmächtiger Schöpfer über der gesamten Welt. Ihm direkt untergeordnet ist der Bischof, der in hierarchischer Weise die gesamte Kirche darstellt. Diesem wiederum ist der Kaiser, der König, der Fürst untergeordnet. Es entsteht also eine ganz eindeutige, machtpolitische Aussage: Der Staat hat sich der Kirche unterzuordnen. Dass die Kirche nach der gesellschaftlichen Etablierung dieses Modells politisch eine große Macht hatte, versteht sich beinahe von selbst!
Die Reformation und ihre politischen Folgen
Auch wenn sich diese Machtverhältnisse im 13. Jahrhundert etabliert hatten, stießen sie nicht überall auf Gegenliebe. Mitunter ist das ein Grund, warum die Reformation im 15. Jahrhundert so erfolgreich aufgenommen wurde. Auch wenn die Sinnspitze dieser mit der Kritik am Ablasshandel der Kirche eine andere war, sahen viele Fürsten in der Abspaltung von der katholischen Kirche eine Möglichkeit, selbst wieder einen größeren Machteinfluss zu erlangen. Gerade hier lässt sich erklären, dass die Reformation nicht nur ein theologischer, innerkirchlicher Prozess war, sondern vielmehr auch eine politische Bewegung.
Ich habe es bereits im letzten Beitrag erwähnt: Die Aussage „cuius regio, eius religio“ ist für diese Epoche elementar: Dem Landesherr war es überlassen, welcher Konfession er sich – und damit sein gesamtes Herrschaftsgebiet (und auch Volk) – zuordnen wollte. Damit ging dann selbstverständlich auch ein ganz bestimmter – je nach Konfession größerer oder kleinerer – Machteinfluss einher. So kam es dazu, dass das deutsche Reichsgebiet in Folge der Reformation nahezu zweigeteilt wurde. Dass der politische Einfluss der Kirche dadurch um ein Deutliches geschmälert wurde, versteht sich dabei von selbst.
Von der Neuzeit bis heute
Was im frühen 16. Jahrhundert angefangen und mit dem Westfälischen Frieden 1648, der das Ende des 30-jährigen Krieges beschloss, vollendet wurde, setzte sich – beeinflusst durch mehrere Faktoren – bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts fort: ein deutlicher Abgrenzungsprozess zwischen Kirche und Gesellschaft. Gründe dafür sind – hier nur in aller Kürze aufgezählt – die Erkenntnisse der Aufklärung, die die Kirche mit aller Macht ablehnte (entscheidend scheint mir hier u. a. der ‚Antimodernistenstreit‘ zu sein), der Kulturkampf ab den 1880er Jahren, auf den die Kirche mit einer starken Milieuisierung reagierte, und nicht zuletzt Staats-Kirchen-Verträge in den 1930er Jahren, mit denen sich die Kirche dazu verpflichtete, sich nicht in den politischen Alltag einzubringen. Durch all diese Faktoren wurde die Kirche in politischer Hinsicht zusehends ins Abseits gedrängt – eine Tendenz, die sich durch die fortschreitende Säkularisierung in den vergangenen 50 Jahren auch auf gesellschaftlicher Ebene festgeschrieben hat.
Nur kurz am Rande: dass sich diese gesamte Entwicklung auch innerkirchlich nachweisen lässt, liegt auf der Hand (und soll auch hier kurz und exemplarisch dargelegt werden): Der Aufruf Papst Urbans II. zum ersten Kreuzzug, der – in der öffentlichen Rezeption seiner Zeit – mit einem vollständigen Sündenablass verbunden wurde, die Entstehung der Hl. Römische Inquisition, die ab dem 16. Jahrhundert über die Glaubenslehre der Kirche wachte und später über den ‚Syllabus Errorum‘ sowie mehrere Indices verfügte, aber auch das II. Vatikanische Konzil, das die Öffnung der Kirche nach außen besiegelte, stehen nicht für sich alleine, sondern sind immer eingebettet in die gesellschaftlich-kulturellen Geschehnisse ihrer Zeit.
Die Situation heute…
…sieht so aus, dass sich die katholische Kirche in den meisten (westlichen) Gesellschaften aus dem politischen Tagesgeschäft grundsätzlich heraushält. Es gibt auf der Welt (Gott sei Dank) keinen katholischen Staat. In den Parlamenten dieser Welt sitzt grundsätzlich keine Partei mehr, die auf ein rein katholisches Fundament ausgerichtet ist. Der Heilige Stuhl, die diplomatische Vertretung des Vatikans in der Welt, pflegt immerhin mit den meisten Staaten der Welt ein diplomatisches Verhältnis – man denke nur an die apostolischen Nuntiaturen in nahezu jedem Land. Gleichzeitig ist er in den Vereinten Nationen vertreten – allerdings nur als permanenter Beobachter. Man kann also zusammenfassen: Die Kirche kann auch heute sich auch heute noch zu verschiedensten Themen äußern; an politischen Entscheidungsprozessen ist sie aber formal nicht beteiligt.
Trotzdem ist die katholische Kirche auch in der heutigen Zeit und Gesellschafter alles andere als machtlos. Nichts zeigt dies deutlicher als der Auftritt des Papstes am Dienstag im Europäischen Parlament und der Besuch der Türkei am Wochenende.
Wahrscheinlich sind (katholische) Würdenträger heute die mitunter einzigen Personen auf dem diplomatischen Parkett, die es sich erlauben können, ungezwungen auszusprechen, was sie denken – vorausgesetzt, sie trauen sich, dies zu tun. Franziskus ist zweifelsohne eine Person, die keine Skrupel davor hat. Seine Aussagen werden so vollkommen authentisch. Seien wir ehrlich: Heute hat kaum jemand noch den Mut, Probleme öffentlich an- und auszusprechen. Umso wichtiger ist es, dass es charismatische Persönlichkeiten wie den Papst gibt, die diese Lücke gewissenhaft auffüllen.
Die Papstbesuche in Straßburg und in der Türkei
In der vergangenen Woche hat Franziskus durch sein öffentliches Auftreten gleich zwei Mal gezeigt, wie die katholische Kirche – trotz ihrer formalen Machtlosigkeit – auch heute als ernst zu nehmendes Mitglied der politischen Weltgemeinschaft wahrgenommen werden kann.
Letzte Woche Dienstag hielt der Papst – auf Einladung von Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlamentes – eine Rede vor den Europaabgeordneten, in der er kein Blatt vor den Mund nahm und die gegenwärtigen Missstände auf dem Europäischen Kontinent deutlich ansprach. Ganz konkret sprach er dabei – aus einer christlichen Denkform hergeleitet – die Umweltpolitik an: dort müsse Europa endlich eine Vorreiterrolle einnehmen und Verantwortung übernehmen. Die Schöpfung – und damit ist hier zunächst nichts anderes als die Umwelt gemeint – könne nur dann bewahrt werden, wenn sich der Mensch nicht als Herr, sondern als Hüter der Erde verstehe. In noch deutlicheren Tönen sprach der Papst die akute Flüchtlingsproblematik an:
„Man kann nicht hinnehmen, dass das Mittelmeer zu einem großen Friedhof wird. Auf den Kähnen, die tagtäglich an den europäischen Küsten landen, seien Männer und Frauen, die Aufnahme und Hilfe brauchen.“
Eine Aussage, die wohl lange in Erinnerung bleiben wird. Nicht umsonst meinte Martin Schulz unmittelbar nach der Rede, der Papst habe den Abgeordneten sowie ganz Europa einen Spiegel vor ihren Augen gehalten.
Der Staatsbesuch der Türkei letzten Wochenende war ebenso von einschneidenden Worten, aber noch viel mehr von solchen Gesten begleitet. So forderte er bei seinem Besuch bei Präsident Erdoğan offen und deutlich die – bis heute nicht verwirklichte – formale und tatsächliche Gleichberechtigung aller Religionen sowie das Ende der anhaltenden Diskriminierung der Christen auf türkischem Boden ein und ermahnte die Muslime, entschiedener gegen den IS vorzugehen – bei gleichzeitigem und entschiedenen Loben der Flüchtlingspolitik der Türkei.
Anders als die Worte Franziskus‘, die zwar in Erinnerung bleiben dürften, sind die Gesten des Heiligen Vaters noch eindeutiger: Das Gebet des Papstes in der Blauen Moschee, die gemeinsame Feier der Eucharistie mit dem Orthodoxen Patriarchen Bartholomäus in der Patriarchatskirche St. Georg und die Bitte Franzikus‘ an den Erzbischof von Konstantinopel, ihn zu segnen, sind allesamt eindeutige Zeichen des Aufeinandergehens und der Versöhnung, sowohl im interreligiösen als auch im christlich-ökumenischen Dialog. Zeichen, die gerade in der gegenwärtigen weltpolitischen Situation auch politisch eine sehr hohe Stahlkraft haben!
Fazit
In einer – zugegeben etwas hitzigen – Diskussion vor ein paar Wochen bin ich mit der Position konfrontiert worden, dass sich die Kirche doch bitte aus möglichst allen gesellschaftlichen Debatten heraushalten solle. Welch eine Verkennung der gesellschaftlichen, diskursiven Rolle und der Bedeutung der Kirche! Die Kirche mag heute nicht mehr über aktive Machtinstrumente zu verfügen (was ich persönlich – ich habe es ja bereits angedeutet – vollkommen begrüße), aber dennoch nimmt sie auch heute noch eine wichtige Position im gesellschaftlichen Diskurs und im Entscheidungsprozess ein, insofern, als dass sie die Funktion eines (gesellschaftlichen) Korrektivs einnimmt. Zöge sich die Kirche wirklich vollkommen aus dem gesellschaftlichen Diskurs zurück, wäre es um die Debattenkultur in unseren Kreisen sehr schlecht bestimmt: sie würde schlichtweg veröden! Nichts zeigt dies deutlicher, als das öffentliche Auftreten des Papstes in der vergangenen Woche!