150 Menschen sind am Dienstag bei einem schrecklichen Unfall verstorben. 144 Passagiere, vier Flugbegleiter und zwei Piloten sind in Barcelona in ein Flugzeug eingestiegen, das sein Ziel nie erreicht hat. Angesichts dieser Tragödie, die zweifelsohne eine Ausnahmesituation ist, stellt sich zwangsläufig die Frage, wie man damit umzugehen hat. Von einem bin ich dabei überzeugt: Der Weg, den die deutsche Medienlandschaft in den vergangenen Tagen eingeschlagen hat, kann – unter der Voraussetzung, dass man ethische Maßstäbe als bindend versteht – unter keinen Umständen der richtige sein!
Was bisher geschehen ist
Wir leben im digitalen Zeitalter. In Zeiten von Online-Journalismus und sozialen Netzwerken wie Facebook und vor allem Twitter ist die (möglichst simultane) Versorgung mit Informationen zu einem elementaren Bestandteil des Lebens geworden: Entscheidend ist, den User möglichst schnell mit möglichst vielen Informationen zu versorgen. Dieses Credo ist zu einem Wettbewerb geworden („Ich muss die neueste Information unbedingt zuerst veröffentlichen“), der dazu geführt hat, dass inzwischen in Ausnahmesituationen – wie es momentan eine ist – etliche Spekulationen sowie Nicht-Informationen in die Welt getragen werden.
Spekulationen und Belagerungen
Am Dienstag erreichten gegen 11.30 Uhr die ersten Meldungen von einem Flugzeugabsturz die Öffentlichkeit. Innerhalb weniger Minuten richteten die Nachrichtenseiten im Internet darauf Live-Ticker ein, in denen sie aktuelle Meldungen zum Absturz festhielten. Weil es verhältnismäßig lange keine sicheren Informationen gab, wurden in vielen Tickern Spekulationen veröffentlicht, so beispielsweise die Meldungen, dass es in der Absturzregion ein Gewitter gegeben habe, dass das Flugzeug bereits des Öfteren technische Probleme gehabt habe, oder, dass der Stimmrekorder nicht ausgewertet werden könne – allesamt Falschmeldungen. Auch wenn inzwischen deutlich mehr Informationen zum Absturz vorhanden sind (auch mit diesen muss man aber vorsichtig umgehen; dazu später noch mehr), werden die Ticker auch weiterhin mit einer Fülle an Spekulationen gefüllt.
Die Stadt Haltern am See im Norden des Ruhrgebiets ist angesichts von 16 verstorbenen Schülerinnen und Schülern sowie zwei verstorbenen Lehrerinnen eines Gymnasiums das Zentrum der Trauer. In den vergangenen Tagen haben sich viele Menschen, insbesondere Schülerinnen und Schüler des Halterner Gymnasiums, auf dem Schulhof getroffen und haben dort Kerzen und Blumen niedergelegt. Anwesend waren dabei auch unzählige Fotografen und Reporter, die versucht haben, die Trauer der Halterner festzuhalten – und nach Möglichkeit erste O-Töne zu bekommen. Selbiges ist am Dienstag auch auf den Flughäfen in Düsseldorf und in Barcelona geschehen. In den Medien – sowohl zunächst online als auch später in den Zeitungen – wurden trauernde, weinende Menschen abgebildet; in manchen Fällen waren die Bilder nicht einmal zensiert – nachweislich wurde ein Großteil der Fotografien ohne Erlaubnis der Betroffenen gedruckt.
Der verstorbene Co-Pilot
Seit gestern gibt es erste – auf Indizien beruhende – Vermutungen, dass der Flugzeugabsturz kein Unfall war, sondern möglicherweise durch den Co-Piloten ausgelöst worden sei. Der Aussage des Staatsanwalts aus Marseille dazu lautet:
„Unsere Interpretation ist, dass der Co-Pilot bewusst den Sinkflug und dann die Zerstörung des Flugzeugs eingeleitet hat.“
(Hervorhebung durch mich)
Der Staatsanwalt hat diese Vermutung auf Grundlage des ausgewerteten Stimmrekorders getroffen. Dabei wurde der zweite Teil der Blackbox, der sogenannte Flugschreiber, bisher noch nicht gefunden, geschweige denn ausgewertet. Grundsätzlich sind die Ermittlungen zum Absturz noch nicht ansatzweise abgeschlossen, vielmehr haben sie gerade erst begonnen. Trotzdem verstehen die Medien die Vermutung des Staatsanwaltes als Ermittlungsergebnis. Seit gestern Mittag wird nun ausführlich darüber berichtet.
Man kann inzwischen ohne Probleme den Namen des Co-Piloten herausfinden; Zeitungen (z. B. die WAZ von heute) haben ein sein Facebook-Profilbild auf ihrer Titelseite gedruckt – da er verstorben ist, sicherlich ohne seine Erlaubnis. Mehrfach wurden und werden Videos sowie Bilder von den Ermittlungsarbeiten im Geburtshaus des Co-Piloten gezeigt; die Springer-Medien, allen voran die Bild und die Welt, haben inzwischen fast ein komplettes Psychogramm (samt medizinischen Details, die eigentlich der ärztlichen Schweigepflicht unterliegen) veröffentlicht. All das, ohne einen endgültigen Beweis, dass der Co-Pilot die Maschine wirklich absichtlich in das französische Alpenmassiv gelenkt hat.
Anmerkung: Weitere Details über die mediale Berichterstattung seit Dienstag sind beispielsweise auf dem BildBlog dokumentiert, z. B. hier und hier.
Was muss in den trauernden Menschen vorgehen, die von Journalisten und Fotografen belagert werden? Wie müssen sich die Angehörigen fühlen, die im Moment ihrer größten Trauer ständig neue Spekulationen ertragen müssen? Was müssen die Eltern des Co-Piloten in diesen Stunden erleiden, in denen jeder ihr Haus kennt und in denen ihr verstorbener Sohn, dem sie selbst noch nachtrauern, von der Bild-Zeitung als „Amok-Pilot“ bezeichnet wird?
Ethische Grundlagen journalistischer Arbeit
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland stellt in seinem ersten Artikel fest: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Hierbei handelt es sich um eine ethische Spitzenaussage, die man sowohl theologisch als auch philosophisch herleiten kann: Theologisch gesprochen macht sich die Würde des Menschen vor allem an seiner Gottebenbildlichkeit fest (vgl. Gen 1,27); d. h., dass die Würde dem Menschen unmittelbar von Gott gegeben ist. Auch in der Philosophie ist die Würde eine grundlegende Kategorie, z. B. wird sie bei Kant unmittelbar von der menschlichen Autonomie hergeleitet. Die Würde des Menschen steht als Grundrecht über anderen Rechten (und auch Restriktionen) – sie ist dauerhaft zu bewahren.
Jeder Mensch verfügt über diese Würde: sei es der Außenstehende, seien es die Verstorbenen, oder auch die Hinterbliebenen. Man kann an dieser Stelle nicht die Würde des einen Menschen gegen die des anderen ausspielen! Bekanntlich heißt es theologisch gesprochen: „Vor Gott sind alle Menschen gleich“. Polito-soziologisch wiederum: „Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich.“ Die Konsequenz ist selbstverständlich dieselbe!
Aussagen des Pressekodex‘
Diese ethische Spitzenaussage findet sich im seit 1973 vom Deutschen Presserat herausgegebenen Pressekodex, der für den Journalismus in Deutschland bindend ist (s. hier). So heißt es beispielsweise in Ziffer 8, in dem es um Persönlichkeitsrechte geht:
Die Presse achtet das Privatleben des Menschen und seine informationelle Selbstbestimmung. Ist aber sein Verhalten von öffentlichem Interesse, so kann es in der Presse erörtert werden. Bei einer identifizierenden Berichterstattung muss das Informationsinteresse der Öffentlichkeit die schutzwürdigen Interessen von Betroffenen überwiegen; bloße Sensationsinteressen rechtfertigen keine identifizierende Berichterstattung. Soweit eine Anonymisierung geboten ist, muss sie wirksam sein.
[…]Richtlinie 8.2 – Opferschutz
Die Identität von Opfern ist besonders zu schützen. Für das Verständnis eines Unfallgeschehens, Unglücks- bzw. Tathergangs ist das Wissen um die Identität des Opfers in der Regel unerheblich. Name und Foto eines Opfers können veröffentlicht werden, wenn das Opfer bzw. Angehörige oder sonstige befugte Personen zugestimmt haben, oder wenn es sich bei dem Opfer um eine Person des öffentlichen Lebens handelt.
[…]Richtlinie 8.4 – Familienangehörige und Dritte
Bei Familienangehörigen und sonstigen durch die Veröffentlichung mittelbar Betroffenen, die mit dem eigentlichen Gegenstand der Berichterstattung nichts zu tun haben, sind Namensnennung und Fotoveröffentlichung in der Regel unzulässig.
[…]Richtlinie 8.6 – Erkrankungen
Körperliche und psychische Erkrankungen oder Schäden gehören zur Privatsphäre. In der Regel soll über sie nicht ohne Zustimmung des Betroffenen berichtet werden.Richtlinie 8.7 – Selbsttötung
Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen, die Veröffentlichung von Fotos und die Schilderung näherer Begleitumstände.
[…]
Im Weiteren Verlauf werden noch Bedingungen zur Berichterstattung in Katastrophen- bzw. Ausnahmesituationen getroffen sowie die Unschuldsvermutung betont:
Richtlinie 11.1 – Unangemessene Darstellung
Unangemessen sensationell ist eine Darstellung, wenn in der Berichterstattung der Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, herabgewürdigt wird. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn über einen sterbenden oder körperlich oder seelisch leidenden Menschen in einer über das öffentliche Interesse und das Informationsinteresse der Leser hinausgehenden Art und Weise berichtet wird. Bei der Platzierung bildlicher Darstellungen von Gewalttaten und Unglücksfällen auf Titelseiten beachtet die Presse die möglichen Wirkungen auf Kinder und Jugendliche.
[…]Richtlinie 11.3 – Unglücksfälle und Katastrophen
Die Berichterstattung über Unglücksfälle und Katastrophen findet ihre Grenze im Respekt vor dem Leid von Opfern und den Gefühlen von Angehörigen. Die vom Unglück Betroffenen dürfen grundsätzlich durch die Darstellung nicht ein zweites Mal zu Opfern werden.
[…]Ziffer 13 – Unschuldsvermutung
Die Berichterstattung über Ermittlungsverfahren, Strafverfahren und sonstige förmliche Verfahren muss frei von Vorurteilen erfolgen. Der Grundsatz der Unschuldsvermutung gilt auch für die Presse.Richtlinie 13.1 – Vorverurteilung
Die Berichterstattung über Ermittlungs- und Gerichtsverfahren dient der sorgfältigen Unterrichtung der Öffentlichkeit über Straftaten und andere Rechtsverletzungen, deren Verfolgung und richterliche Bewertung. Sie darf dabei nicht vorverurteilen. Die Presse darf eine Person als Täter bezeichnen, wenn sie ein Geständnis abgelegt hat und zudem Beweise gegen sie vorliegen oder wenn sie die Tat unter den Augen der Öffentlichkeit begangen hat. In der Sprache der Berichterstattung ist die Presse nicht an juristische Begrifflichkeiten gebunden, die für den Leser unerheblich sind.Ziel der Berichterstattung darf in einem Rechtsstaat nicht eine soziale Zusatzbestrafung Verurteilter mit Hilfe eines „Medien-Prangers“ sein. Zwischen Verdacht und erwiesener Schuld ist in der Sprache der Berichterstattung deutlich zu unterscheiden.
[…]Quelle: siehe hier; weitere Ausführungen zu den einzelnen Ziffern auf der entsprechenden Seite.
Die konkrete Anwendungspraxis
Nimmt man den Pressekodex ernst – und das sollten die Nachrichtenmacher hierzulande eigentlich alle tun –, dann wird deutlich, dass in den vergangenen Tagen so einiges aus dem Ruder gelaufen ist: Persönlichkeitsrechte, sowohl die der Opfer als auch die der Angehörigen, wurden en masse verletzt, die Situation wurde des Öfteren überspitzt und unbesonnen dargestellt und es ist bereits ein Täter gefunden worden, obwohl die Ermittlungen erst begonnen haben und man in diesem Stadium nur von Indizien ausgehen kann. Dem Unglück und den Verstorbenen wird man damit in keiner Weise gerecht (wenn man einer solchen Tragödie überhaupt gerecht werden kann, aber das ist wohl eine andere Frage)! Nicht umsonst bezeichnete der BildBlog die gegenwärtige Berichterstattung am Mittwoch als „Absturz des Journalismus“.
Ich bin mir dessen bewusst, dass man als Journalist in einer Situation wie dieser in dem Zwiespalt steht, zum einen so nah wie möglich am Geschehen dran zu sein, um den Leser bzw. Nutzer mit möglichst vielen Informationen versorgen zu können; zum anderen aber einen ethischen „Kompass“ zu haben, der der eigenen Arbeit auch ein Stück weit ihre Grenzen aufzeigt. Ich bin aber davon überzeugt, dass das Bewahren ethischer Grundsätze gerade auch aus Respekt vor den unmittelbar Betroffenen Vorrang haben muss.
Hätte die Medienlandschaft dem – ja bereits bestehenden moralischen Kompass – in diesem konkreten Fall eine größere Bedeutung zugeordnet, dann wären wohl so einige Informationen später an die Öffentlichkeit gelangt. Gleichzeitig wären aber viele Informationen – nämlich genau die, die keine Informationen oder Fehlinformationen waren – überhaupt nicht bekannt geworden. Den Trauernden wären unnötige Nachrichten, die die Situation nur schlimmer machen erspart geblieben. Ebenso wären die unzähligen (und insbesondere die nicht-zensierten) Fotos von Trauernden an den Flughäfen in Barcelona und Düsseldorf, am Gymnasium in Haltern und an den vielen anderen Orten nicht veröffentlicht worden. Ihre Persönlichkeitsrechte wären gewahrt worden und die Allgemeinheit hätte nicht eine Information weniger über das Unglück erhalten. Und auch die Familie des verstorbenen Co-Piloten könnte (abseits ihrer Trauer) ihr Leben weiter leben – angesichts der Tatsache, dass das Elternhaus des Co-Piloten mehrfach in den Medien gezeigt wurde, wird dies mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr der Fall sein.
Abschließende Gedanken
Dass dieser Beitrag die deutsche Medienlandschaft ändern wird, darf wohl bezweifelt werden. Es wäre wohl aller Ehren wert, aber an dieser Stelle ist ein wohl realistisch, davon auszugehen, dass es im deutschen Journalismus so schnell zu keinem Umschwung kommen wird. Ich persönlich finde das schade – und durchaus bedenklich, denn: Die Trauer der Betroffenen, der Hinterbliebenen, wird keineswegs durch eine pausenlose Berichterstattung gelindert, die sowohl auf der Ebene der Persönlichkeitsrechte als auch emotional zu nahe geht und letztlich nur die voyeuristische Ader der Gesellschaft (und vor allem des Journalisten!) zu stillen versucht. Trost kann, wenn überhaupt, nur gelindert oder zumindest geteilt werden durch eine aufrichtige Anteilnahme der Gesellschaft. Diese kann auch durch eine distanziertere, der Situation angemessenere Berichterstattung erreicht werden. Ich würde mir wünschen, dass sich die Journalisten hierzulande dies in Zukunft zu Herzen nehmen werden…
Was denkt ihr über die aktuelle Berichterstattung? Denkt ihr, dass es in Ordnung ist, in einer solchen Ausnahmesituation möglichst alle Informationen möglichst schnell darzustellen? Oder glaubt ihr, dass ethische Maßstäbe in einer solchen Situation von besonderer Bedeutung sind? Und glaubt ihr, dass der Pressekodex in Zukunft für alle Medienmacher eine verbindlichere Bedeutung haben sollte? Ich freue mich auf eure Meinung und eine – der Situation hoffentlich angemessene – Diskussion!
Dieser Beitrag ist entstanden auf Anregung meiner Leserin und Kommilitonin Tina. Vielen Dank dafür!