Zum Hintergrund der Diskussion
Eines scheint in diesen Tagen eindeutig zu sein: die deutsche Gesellschaft hat sich in großer Mehrheit strikt gegen militärische Einsätze jeglicher Art positioniert. Wer Einsätze in Kriegsgebieten befürwortet – unabhängig davon, ob dies allgemein gilt oder nur auf einzelne (z. B. Sonder-) Fälle bezogen ist –, stoßt in diesen Tagen auf großen Widerstand. Insbesondere gilt diese „Regel“ scheinbar für Politiker oder – wie in diesen Tagen deutlich wird – für den obersten Repräsentant aller Deutschen.
Bisher hat sich der Bundespräsident insgesamt drei Mal zu militärischen Einsätzen (und der damit verbundenen deutschen Verantwortung) geäußert. Dabei hat er sich – und das ist für unsere weiteren Überlegungen wichtig – auf zwei unterschiedliche Dimensionen bezogen: Zunächst argumentierte er Ende Januar auf der Münchner Sicherheitskonferenz bezüglich der (aus der ökonomischen Stärke entstehenden) politischen Verantwortung Deutschlands dahingehend, dass es in politischen Krisen erforderlich sei, mehr (u. a. auch militärisches) Engagement zu zeigen.In einem Zeitungsinterview Mitte Juni machte sich Gauck wiederholt für diese Position stark, und spitzte seine These überdies noch zu: In gewissen Fällen könne so „auch der Einsatz von Soldaten erforderlich sein“.
Angesichts dessen schrieben insgesamt 67 ostdeutsche Pfarrer einen offenen Brief an den Bundespräsidenten, in dem sie ihn dafür rügten, dass seine Aussagen nicht mit dem Abschlusspapier der ökumenischen Versammlung der DDR-Kirchen 1989 (an der er auch teilgenommen hatte), das die Friedensbewegung jeder Gewaltanwendung vorziehe, vereinbar seien. Im Auftrag Gaucks schrieb David Gill, Chef des Bundespräsidialamtes, eine Antwort, in der nun eine theologische Dimension eröffnet wird: Einer der zentralen Sätze des Schreibens lautet: „Der evangelische Christ Gauck kann somit nicht erkennen, dass der vom Evangelium gewiesene Weg ausschließlich der Pazifismus sei“. Ist dem wirklich so?
Katholizismus und Gewalt
Ich kann mir vorstellen, dass der Bundespräsident für seine letzte Aussage von evangelischen Theologen noch kritisiert werden wird. Ich möchte mich jetzt aber auf die Frage beziehen, wie die Katholische Kirche ihr Verhältnis zu Frieden und Gewalt versteht – und wie sie sich dementsprechend zu militärischen Einsätzen positioniert. So viel sei vorweg genommen: Man kann (oder muss) das Verhältnis durchaus als ambivalent bezeichnen.
Die historische Entwicklung – ein kurzer Überblick
Das Christentum machte faktisch erst nach der konstantinischen Wende im 4. Jahrhundert erstmals aktive Erfahrungen mit der Anwendung von Gewalt. Als das Christentum im Jahre 380 Staatsreligion wurde, wurden Christen zum ersten Mal damit beauftragt, das Römische Reich zu verteidigen. Zuvor war einem Christ selbst das Halten einer Waffe verboten – der „Kampf“ gegen das Staatssystem bzw. der Schutz vor dessen Übergriffen (zu Zeiten als man noch verfolgt wurde) wurde als rein pazifistisch verstanden.
Als sich das Christentum im Mittelalter immer weiter ausbreitete und Ziel von Angriffen (anderer Stämme, Staaten oder Religionsgruppen) wurde, wurde auch von der Kirche eine Militarisierung befürwortet. Diese Entwicklung ging so weit, dass die Kirche etwa ab dem 11. Jahrhundert anfing, eigene Interessen militärisch durchzusetzen. So gründete Papst Gregor VII. im Laufe des Investiturstreits die milites sancti Petri; diese seien, ebenso wie Christus, „Krieger für das Gute“. Ohne dies an dieser Stelle bewerten zu wollen, muss man festhalten, dass sich das Christentum innerhalb von etwa 800 Jahren von einer vollkommen pazifistischen zu einer grundsätzlich gewaltoffenen Religionsgemeinschaft änderte.
Im Hoch- sowie Spätmittelalter wurde dieser Weg in mehreren Stationen fortgesetzt. Zu nennen seien hier die Kreuzzüge im 11. – 13. Jahrhundert, ferner kriegerische Auseinandersetzungen mit Türken ab dem 15. Jahrhundert angesichts der Ausbreitung dieser auf dem europäischen Kontinent und zuletzt auch die innerchristlichen, konfessionellen Auseinandersetzungen nach der Reformation, die im 30-jährigen Krieg gipfelten. Eine kriegsbejahende Haltung hat die Kirche dabei nicht immer und unbedingt eingenommen; gleichzeitig ist aber auch nachweisbar, dass der Krieg nie eindeutig abgelehnt wurde – wenn überhaupt, dann nur in Verbindung mit einem Gebet um den Sieg in der folgenden Schlacht.
Die Liturgie der Kirche nahm dabei eine entscheidende Rolle ein: Nachweisbar gab es (vor allem ab dem 16./17. Jahrhundert) immer wieder Waffensegnungen, Fahnen- und Schwertweihen. Im missale Romanum, dem seit dem Konzil von Trient für die gesamte Katholische Kirche gültigen Messbuch gab es eine Messe für den Frieden – diese sollte tatsächlich aber nur die Friedenssicherung nach einer gewonnenen Schlacht garantieren. Diese liturgische Entwicklung ging so weit, dass der Einsatz des Soldaten in der Schlacht mit dem Tod Jesu am Kreuz gleichgesetzt wurde.
Was im 17. Jahrhundert seinen Höhepunkt fand, behielt im Grunde bis in den 2. Weltkrieg hinein seine Gültigkeit – mit, wie wir heute wissen, fatalen Folgen: Bei den Schlachten während der napoleonischen Eroberungskriege wurde von beiden Seiten ignoriert, dass – und das war ein Novum – auf der anderen Seite unter Umständen ein Glaubensbruder stand. Der 1. Weltkrieg wurde von der Kirche – zumindest zu Beginn – ausdrücklich befürwortet. Selbst der 2. Weltkrieg wurde von einigen Würdenträgern zwar von Beginn an, vom Lehramt aber erst in den letzten Kriegsjahren eindeutig und mehrfach verurteilt.
Angesichts dieser Erfahrungen positionierte sich die Kirche im 2. Vatikanischen Konzil eindeutig gegen jegliche Form der kriegerischen Gewalt und kehrte damit zu ihrer ursprünglichen Überzeugung zurück. Ein „gerechter Krieg“, wie er seit dem 4. Jahrhundert, spätestens aber seit dem Hochmittelalter propagiert wurde, wird heute strikt verurteilt.
Die Perspektive des Evangeliums
Ihre heutige Position begründet die Kirche mit der Verkündigung und Botschaft Jesu Christi – und damit mit der Botschaft des Evangeliums. Wir erinnern uns: Bundespräsident Gauck sagt bezieht sich ebenfalls auf das Evangelium, ist aber davon überzeugt, dass diese nicht rein pazifistisch zu verstehen sei. Was also sagt die jesuanische Botschaft genau aus?
Grundlegend für die jesuanische – und damit für die christliche Botschaft – ist das Gebot der Nächstenliebe, das Jesus in seiner Bergpredigt zum Gebot der Feindesliebe erweitert hat (Mt 5, 43ff. par.):
„43Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. 44Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde, segnet, die euch verfluchen, tut Gutes denen, die euch hassen, bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen, 45damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“
Selbstverständlich setzt das Gebot der Feindesliebe dann auch einen Verzicht auf Anwendung von Gewalt voraus (s. Mt 5, 38f. par.):
„38Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Auge für Auge und Zahn für Zahn. 39Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.“
Zugespitzt werden diese Aussagen dann durch die goldene Regel (s. Mt 7,12 par.):
„Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten.“
Auch über die jesuanische Botschaft hinausgehend bleibt das Evangelium bei seiner pazifistischen Botschaft; so auch im Römerbrief des Apostels Paulus (vgl. Röm 12,21):
„Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse durch das Gute!“
Wir stellen also fest: die Botschaft Jesu, die Botschaft des Evangeliums ist eine Botschaft, die jegliche Form der Gewalt verurteilt. Eine Botschaft, für die der Frieden grundlegend ist. Eine Botschaft, für die der Frieden und der Einsatz für den Frieden das einzige Momentum gesellschaftlichen Zusammenlebens sind.
Wie sieht dies aber in einer konkreten Situation aus?
So eindeutig sich das Evangelium also in der Frage nach der Gewalt positioniert, so schwierig finde ich es, in der konkreten Situation nach genau dieser Maxime der Feindesliebe zu handeln. Grundsätzlich sehe ich nämlich das Problem, dass man mit dieser Haltung sehr schnell in Hilflosigkeit verfallen kann. Deutlich wird dies an folgendem Beispiel:
Die Terrormiliz der IS hat in diesen Tagen eine christliche Region im Nordirak eingenommen. Laut Aussage des Patriarchen der chaldäisch-katholischen Kirche, Louis Raphael I. Sako, sind insgesamt mehr als 100.000 Menschen auf der Flucht. Halten wir uns strikt an die Botschaft des Evangeliums, dürfen wir dagegen keinen Widerstand leisten. Oder mit anderen Worten: Wir müssen tatenlos dabei zusehen, wie einhunderttausend (!) Menschen ihr Heim – das sie wohl nie wieder sehen, geschweige denn betreten werden – verlassen haben und ohne jegliches Hab und Gut unterwegs sind in der Hoffnung, von den Milizen nicht doch noch auf brutale Weise hingerichtet zu werden und irgendwo (mit viel Glück) ein neues Leben beginnen zu können.
Ich kann mir als Theologe beim besten Willen nicht vorstellen, dass ein Gebot der Feindesliebe so etwas gutheißen kann. Gleichzeitig ist mir aber auch vollkommen bewusst, dass in diesem konkreten Fall ein vollständiger Militäreinsatz, d. h. die aktive Anwendung von Gewalt, ebenfalls nicht zu einer dauerhaften Lösung beitragen kann.
Entscheidend ist meines Erachtens, wie wir den christlichen Grundgedanken des Friedens für uns definieren: Reicht es uns aus, dass wir selbst in Frieden leben, oder wollen wir dieses Gefühl, diese Lebenseinstellung möglichst vielen Menschen ermöglichen? Als Theologe plädiere ich ganz eindeutig für letzteres! In seiner Konsequenz bedeutet dies dann auch, in gewissen Fällen (wie z. B. der momentanen Situation im Irak) von einer rein pazifistischen Lösung Abstand zu nehmen. Das schließt nicht automatisch einen militärischen Kriegseinsatz ein, kann aber z. B. ein Engagement der UN-Blauhelmsoldaten im Nordirak bedeuten (dabei muss ganz grundsätzlich gelten: Ohne ein völkerrechtliches Mandat der UN darf es zu einem solchen Engagement nicht kommen). Womit ich von der Meinung des Bundespräsidenten letztlich nicht mehr weit entfernt bin.
Abschließende Gedanken
Fassen wir zusammen: Bundespräsident Joachim Gauck hat sich für ein stärkeres Engagement der Deutschen in Krisensituationen ausgesprochen und dabei die Rolle des Militärs betont. Auch wenn ich seiner Argumentation in Bezug auf die Legitimation eines solchen Einsatzes durch das Evangelium nicht zustimmen kann, komme ich grundsätzlich zu dem Schluss, dass es gewisse Situationen gibt, in denen es – auch und insbesondere aus Respekt vor den unzähligen Menschen, die der Gewalt zum Opfer fallen – tatsächlich legitim sein muss, in irgendeiner Weise zu intervenieren. Wie genau eine solche Intervention aussehen kann, muss zweifelsohne geklärt werden. Gerade deswegen ist es aber von großem Nutzen, dass die Diskussion, die wir gerade führen, vom Bundespräsidenten angestoßen wurde. Denn nur so kann man letztlich zu einem gesellschaftlichen Konsens gelangen.