Zu den beiden Diskussionsfällen
Ich habe vorgestern bereits erwähnt, dass Diskussionen in katholischen Kreisen oft unterhalb der Gürtellinie geführt werden. Mein Eindruck ist zudem, dass sich dies bei kontroversen Fragestellungen noch weiter steigert: i. d. R. ist ein sachlicher Diskussionston kaum noch feststellbar; stattdessen gibt es viele Anschuldigungen, Beleidigungen und sogar Diffamierungen. Dazu kann man stehen wie man will, aber das soll heute nicht das Thema sein (ich habe aber vorgestern bereits hier Stellung zu dieser Diskussionskultur bezogen).
Das Recht auf Sexuelle Selbstbestimmung
Nun aber zu den speziellen Vorkommnissen: Angesichts der Europawahl im Mai stellte die Katholische junge Gemeinde (KjG), ein katholischer Jugendverband, orientiert am „Europäischen Jugendforum“ ein Positionspapier zu Jugendrechten zusammen. Als eines dieser Rechte wurde auch das „Recht auf sexuelle Selbstbestimmung“ aufgeführt.
Ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung garantiert auch die Freiheit, seine Sexualität auch nach einem anderen als dem „klassischen“ Modell auszuüben. Aus katholischer Sicht ist eine solche Garantie angesichts der von der Kirche vertretenen Sexuallehre bekanntlich problematisch. Von daher erscheint es legitim, dass die Position der KjG stark kritisiert wurde – so stark, dass der Jugendverband den Punkt letztlich aus seinem Programm entfernen musste. Die Kritiker argumentierten dabei oft mit der Verankerung der kirchlichen Sexuallehre im Katechismus der Kirche.
Die Abkehr vom Naturrecht
In einem – auf den ersten Blick – ähnlichen Fall, der allerdings eine viel tiefgreifendere theologische Dimension hat, geht es um die US-amerikanische Nonne und Theologin Margaret A. Farley RSM, die in ihrem 2008 publizierten Werk „Just Love. A Framework for Christian Sexual Ethics“ die These entwickelte, dass die naturrechtliche Begründung kirchlicher Normen heute nicht mehr tragbar sei. Eine Abkehr der Kirche vom Naturrecht habe dann auch Konsequenzen für die Begründung der katholischen Sexualmoral – ganz analog sei auch sie dann in ihrer jetzigen Ausgestaltung nicht mehr tragbar.
Das Buch wird zwar erst in Kürze in deutscher Sprache erscheinen, die Thesen Farley’s werden jedoch schon jetzt kontrovers diskutiert. Und auch hier gilt – genauso wie im Fall des KjG-Positionspapiers: Auf beiden Ebenen, sowohl auf der Mikroebene der Sexualmoral als auch auf der Makroebene des dahinter stehenden philosophisch-ethischen Konzeptes, argumentieren die Kritiker mit der Gebundenheit der Kirche an ihren Katechismus.
Über den Katechismus der Katholischen Kirche
Eine Argumentation mit dem Katechismus – wie in den beiden genannten Fällen (und auch sonst sehr häufig) geschehen – ist prinzipiell legitim; trotzdem sehe ich darin – wie anfangs bereits erklärt – vor allem theologisch-hermeneutische Probleme. Das hat sowohl historische als auch theologische Gründe.
Obwohl es nachweislich bereits seit dem 8. Jahrhundert einen Katechismus gab, erlebte er erst nach der Reformation seine Blütezeit – galt er doch als beste Möglichkeit, Glaubenspositionen und -überzeugungen kurz und prägnant darzustellen. Martin Luther veröffentlichte 1528 einen kleinen und 1529 einen großen Katechismus; von Katholischer Seite folgte 1555 eine Antwort, bevor das Konzil von Trient 1566 offiziell den „Catechismus Romanus“ verfasste. Dieser behielt im Grunde bis zur Veröffentlichung des Katechismus der Katholischen Kirche 1992 seine Gültigkeit.
Grundsätzlich hat der Katechismus die Aufgabe, den Glauben der Kirche sowie die katholische Lehre darzustellen. Streng genommen kann man ihn auch als Nachschlagewerk verstehen. Deutlich wird dies z. B. an der folgenden Aussage des Katechismus zum Thema Homosexualität:
Art. 2357: „Homosexuell sind Beziehungen von Männern oder Frauen, die sich in geschlechtlicher Hinsicht ausschließlich oder vorwiegend zu Menschen gleichen Geschlechtes hingezogen fühlen. Homosexualität tritt in verschiedenen Zeiten und Kulturen in sehr wechselhaften Formen auf. Ihre psychische Entstehung ist noch weitgehend ungeklärt. Gestützt auf die Heilige Schrift, die sie als schlimme Abirrung bezeichnet [Vgl. Gen 19, 1-29; Röm 1,24-27; 1 Kor 6,10; 1 Tim 1,10.], hat die kirchliche Überlieferung stets erklärt, „daß die homosexuellen Handlungen in sich nicht in Ordnung sind“ (CDF, Erkl. „Persona humana“ 8). Sie verstoßen gegen das natürliche Gesetz, denn die Weitergabe des Lebens bleibt beim Geschlechtsakt ausgeschlossen. Sie entspringen nicht einer wahren affektiven und geschlechtlichen Ergänzungsbedürftigkeit. Sie sind in keinem Fall zu billigen.“
– Quelle: vatican.va
Die Problematik des Katechismus
Eine solche Formulierung offenbart für mich in zweierlei Weise Probleme: zum einen wird im genannten Artikel davon gesprochen, dass Homosexualität gegen das „natürliche Gesetz [des Menschen]“ verstoße; gleichzeitig wird aber im nächsten Artikel eingeräumt, dass es weltweit viele Menschen mit einer homosexuellen Veranlagung gibt (wobei „Veranlagung“ eine genetische Dimension hat; der Mensch kann darauf also keinen Einfluss nehmen). Es stellt sich hier zwangsläufig die Frage: Was ist mit der Natur homosexueller Menschen?! Der Mensch erlangt seine Natur schließlich aus seiner Veranlagung heraus! Deutlich wird also: Das Naturrecht mag sich eignen, um allgemeine Aussagen (auf der Makroebene) zu begründen; sobald man allerdings auf der Ebene des Individuums naturtheoretisch argumentiert, gerät man in eine hermeneutische Zwickmühle.
Zum anderen – und dieser Punkt hängt durchaus mit ersterem zusammen – wird im oben zitierten Artikel deutlich: Der Katechismus schränkt, da er faktisch vorgefertigte Aussagen verwendet, die Möglichkeit theologischer Überlegungen ein. Der Bezug auf das Naturrecht – auf dem der Katechismus ja grundsätzlich beruht – im genannten Zitat macht dies in besonderer Weise deutlich. Die Grundlegung der christlichen Theologie im Naturrecht geht zurück auf den Kirchenvater Augustinus.
Obwohl viele Theologen nach ihm (darunter auch der Kirchenlehrer Thomas von Aquin: seine Theologie ist sehr stark vom Vernunftgedanken her konzipiert) zu der Erkenntnis erlangt sind, dass das Naturrecht für theologische Legitimierungen zumindest nicht vollkommen geeignet sei – ich wage es zu behaupten, dass ein Großteil der heutigen Theologen diese Überzeugung teilt –, wird es heute noch von der Kirche als geltend vorausgesetzt. Grundsätzlich ist es nicht ausgeschlossen, dass man mit anderen Denkformen zum selben Ergebnis kommt. Faktisch ist dies aber gar nicht erst möglich! Theologiehermeneutisch entsteht also das Problem, dass man auf Fragen kaum in einer „aktuelleren“ Denk- bzw. Sprachform antworten kann. Das wird umso mehr zum Problem, da der Katechismus in seinen Aussagen oft sehr eindeutig ist – und so erst recht kaum Raum für eine theologische Ausgestaltung einer Aussage lässt.
Abschließende Gedanken
Ich möchte den Katechismus keineswegs als sinn- oder nutzlos einstufen. Dafür ist seine Leistung, katholische Glaubensaussagen in vergleichsweise einfacher und gebündelter Form darzustellen, zu wichtig. Gleichwohl bin ich als Theologe – vom Standpunkt des theologisch-hermeneutischen Denkens her – kein Freund des Katechismus. Die Gründe dafür liegen meines Erachtens auf der Hand: Mag der Katechismus für denjenigen Christen, der sich nicht sehr mit katholischen Positionen befasst, ein gutes Nachschlagewerk sein, so ist er für den Theologen insofern eine Einschränkung, als dass er durch seine fest definierten Aussagen in vielen Fällen eine nötige theologische Differenzierung verwehrt.
Vor allem in existentiellen Fragen, die an die Theologie gestellt werden und denen sich Theologie stellen muss – und ich sehe die zwei oben vorgestellten Fragen der sexuellen Selbstbestimmung sowie der Rolle des Naturrechtes definitiv als solche – halte ich eine solche Differenzierung jedoch für elementar. Für die Theologe entstehen in der Rückgebundenheit an den Katechismus also große Probleme – zumal der Katechismus ja nicht wie die Heilige Schrift Wort Gottes ist, sondern lediglich von Menschenhand geschaffenes Werk.